15 Uhr

Einen Monat später – was hat sich in der Zwischenzeit getan?

Setzen Sie sich, wir rekapitulieren.

Meine Nichte hat ihren Namen gelernt und kann jetzt »Ich« sagen, unecht auf Kommando lachen und verschiedene Affenarten aufsagen. Ihr Cousin kennt jeden Dino. Sophie hat ihre Masterarbeit eingereicht und ich glaube fest daran, dass ich das auch schaffe. Die ersten Bewerbungen wurden mit Sekt begossen und late to the party ein paar positive Corona Tests in meinem Umfeld erzielt. Mein Ex-Freund entpuppt sich als kleiner instagram-»Star« – deabonniert. Dem Gedanken, dass auf der Welt wirklich nicht noch mehr passieren kann, folgt noch mehr, was auf der Welt passiert. Ein online Slam wird gewonnen. Eine Zugfahrt voller Musicals und schließlich ein Fotoalbum am Valentinstag, das vor allem zeigt: Die letzten Monate hat sich wenig getan.

Setzen Sie sich, wir schreiben die Masterarbeit und Bewerbungen, sehen fern und essen zwischendurch eine Kleinigkeit.

Ein guter Tag, wenn ich spazieren gehe. Ein besserer, wenn ich auf dem Weg etwas Schönes finde: einen Donut to go, ein Geburtstagsgeschenk, dich. Ein guter Tag Hand in Hand, Laptop an Laptop. Du schaust mir über die Schulter und ich dir, das hilft, das spornt an, das motiviert. Die Frage, warum ich in letzter Zeit so k.o. bin beantwortet mit 90 Seiten Masterarbeit. Drei Verabredungen auf der langen Bank, eine in der Tasche, eine für Juni vielleicht. 5 Bewerbungen auf dem Weg, du und dieses Lied, das du auf dem Rückweg von der Uni nach Hause hörst.

»15 Uhr – Wir machen Sektfrühstück.«

Die Dozentin meiner ehemaligen Mitbewohnerin hat als Hilfsmittel für Hausarbeiten ein Glas Rotwein vorgeschlagen. Dann sinkt die Hemmschwelle, dann tut der erste Satz nicht so weh. Der zweite geht dann leicht von den Lippen und die erste Seite ist schneller geschafft als das zweite Glas Wein.

Wenn ich schreibe, dann fließt es wie ein Wasserfall. Dann kommen meine Finger kaum meinen Gedanken hinterher. Dann ärgere ich mich, weil sie mich ausbremsen, mich vergessen lassen, was da gerade noch so schön in meinem Kopf war und ganz ehrlich: In meinem Gehirn ist ein kleines Ich, das steht immer vor einem Mikrofon, hat immer Textblätter in der Hand, die im Moment erst beschrieben werden. Und dieses kleine Ich performt nur für mich, nur für das, was außerhalb ganz leise Stück für Stück entsteht, mehr für das wie als für das was. Und es redet sich um Kopf und Kragen, muss gebremst werden, das Zeitlimit einhalten und schließlich wieder zurück zum Anfang finden.

Setzen Sie sich, wir rekapitulieren.

»Hallo Mama, kann ich heute Abend kurz vorbeikommen? Vielleicht gibt’s Kuchen und ein Therapiegespräch umsonst.«

Ein Kollege hat jetzt endlich einen Platz, seine Freundin bald eine Arbeit in der Nähe. Ein weiterer zieht mit seiner Partnerin mehr Richtung Land. Mein Chef hat eine Wohnung gekauft und meine Schwester kommt zurück nach Paderborn. Alles geht voran. Alles läuft weiter. Alles geht seinen Weg und ich habe meinen gefunden. Jetzt müssen sich nur noch Tore öffnen. Jetzt muss ich hoffentlich den richtigen Schlüssel in der Tasche haben.

»Du bist gut genug«, höre ich meine Mutter meinem Partner sagen und nehme die Worte auch für mich selbst an. »Das hier ist gerade die schlimmste Phase«, denke ich – und – »Wenn wir das überstehen, schaffen wir alles«, sagst du. Ein Tag mit meinen Schwestern, viel Sushi auf dem Tisch und danach neue Ringe aus Perlen, selbstgemacht. Ein Tag Wellness, eine Sauna zu viel, anstrengende Entspannung. Ein Tag zu lang im Bett und Rückenschmerzen. Ein Tag Sektfrühstück für den Kreislauf, ein Bier vor vier und einen Kaffee danach.

Du an meiner Hand, im Ohr ein Song von ihm und in meinem Mailprogramm noch immer diese Nachricht von früher von dem, dessen Name mir schlecht über die Lippen geht. Wie heißt er noch gleich, wie soll ich ihn nennen? Was genau ist da noch, das ihn beschreibt, das ihn für mich greifbar macht – zu wenig. Keine Zeit, darüber nachzudenken. Keine Zeit, daran zu arbeiten. Gerade so viel Zeit zu schreiben, im Kopf vor einem Mikrofon zu stehen, Stück für Stück aufs Blatt zu bringen, mir einen Schlüssel zu erarbeiten, der mir Einlass gibt in das, was noch kommt.

Und dann geht der Scheinwerfer aus, abends, wenn die Laternen angehen. Dann wird das Mikrofon abgestellt, die Zettel aus der Hand gelegt, der Laptop zugeklappt. Dann hat mein kleines Ich im Gehirn kurz Pause. Dann spielen wir Minecraft Dungeons auf der PS5 und können stumpf pixelige Zombies töten. Dann schauen wir kurz Nachrichten und sehen: Die Welt geht weiter unter. Dann kümmern wir uns morgen wieder darum.

Setzen Sie sich, wir haben Pause.

 

Sarah Lau