Mein Studium neigt sich dem Ende zu. Ich prokrastiniere, um die Masterarbeit nicht beginnen zu müssen. Denn was einmal anfängt, kommt schnell zu einem Ende. Ein Schritt vorwärts, zieht einen nächsten mit sich und wenn der Stein ins Rollen kommt, löst er Lawinen aus. Ich muss mich hinsetzen und arbeiten, hinsetzen und Bewerbungen schreiben für alles, was nach der Uni kommt. Ich muss mich hinsetzen und Abgaben schreiben, recherchieren, Filme schauen, lesen, formulieren. Setzen Sie sich mit mir, dann sitze ich nicht so alleine am Schreibtisch, allein vor dem Bildschirm, allein mit der Arbeit und der Angst im Nacken vor dem Danach. Setzen Sie sich, setzt euch, ich stehe auf, denn mein Cousin hat Geburtstag. Er feiert das Teenager-Dasein, quasi ein Coming of Age. Plötzlich geht es schneller in Richtung Erwachsenwerden, plötzlich ist man Teenie, plötzlich gibt es Cola mit Koffein und plötzlich vielleicht bald schon das erste Bier, alkoholfrei gibt’s schon heute.
Ich stehe auf und trage vor, was ich für ihn geschrieben habe. Nach dem Anreiz seiner Einladungskarte in Anlehnung an die Grinsekatze aus Alice im Wunderland: »Where should I go?« – »That depends on where you want to end up.« Vielen Dank für diesen Ratschlag, der nur noch mehr Türen öffnet, als unsere Generation sowieso schon vor sich hat. Zu viele Möglichkeiten und Wege. Ich habe versucht, dem ein wenig die Angst zu nehmen. Für meinen Cousin, aber auch ein bisschen für mich. Setzen Sie sich, ich trage vor:
»‚Wo soll ich hingehen, fragst du dich. Der Wind trägt dich immer der Nase nach, dorthin, wo die Sonne scheint, das Gras immer grüner wird, die Menschen lächeln und kein Weg zu weit scheint. Vielleicht landest du dort, wo jeden Tag Gewitter herrscht, auf stürmischer See, mit einer Hand immer Halt hinter dem Steuer deines eigenen Schiffes. Vielleicht hast du eine Crew an Bord und bist Kapitän, vielleicht bist du Sous-Chef und es gibt jeden Tag Fisch, aber vielleicht, ganz vielleicht, bist du auch der Fisch. Ein Haifisch im Becken, ein Hammerhai, der Chef unter Wasser, vielleicht auch nur die Forelle, die im Tümpel dahindümpelt, vielleicht bist du das Wasser, ganz kalt und schnell fließend, als kleine Quelle gestartet, mit Flussfreunden Länder umspült und nach vielen Umwegen und Wasserfällen schließlich im Meer gelandet. Vielleicht bist du das Meer. So weit und so tief, unergründet und voller Geheimnisse birgst du tausend kleine Dinge, die niemand vorher sah, die selbst du noch nicht kennst. Vielleicht bist du das Wissen, das jeder hier braucht, vielleicht bringst du Erkenntnis und baust darauf auf. Vielleicht wirst du Erfinder, erfindest dich selbst, erforschst deine Tiefen, alles, was da noch kommt. Vielleicht findest du Knochen aus älteren Tagen, findest Nerven aus Stahl und junge Gedanken.
Vielleicht weißt du noch gar nicht, wo es hingehen soll. Wie das Ziel heißt und was das Transportmittel wird. Vielleicht gehst du zu Fuß, vielleicht trägt dich der Wind, vielleicht nimmt dich wer mit oder du willst lieber schwimmen. Und vielleicht, wenn du ankommst, willst du wieder zurück. Was Anderes sehen, was Neues erleben, bist doch noch nicht da, wo du eigentlich sein willst. Vielleicht war das Ziel auch nur eines von vielen. Vielleicht bist du unsicher, weißt nicht wohin, doch eines ist sicher, zurück geht es immer.
Ein sicherer Hafen erwartet dich, ein Zelt, ein Bett, eine warme Tasse Tee und meistens ein Schluck Sekt. Denn es gibt Grund zum Feiern, egal, wo du bist, denn wir feiern dich.
Wohin es gehen soll, das weißt nur du.
Das Leben ist wie eine Tüte buntes Konfetti, jeder Fetzen Papier sät Glück und bringt dich voran. Das Leben ist wie eine Uhr, am schönsten ist es, wenn sie stehen bleibt, wenn man die Zeit vergessen darf, ausschlafen, zu spät kommen.
Und ich glaube ja, die Erwachsenen verarschen uns, die wissen selbst nicht so richtig, wie leben funktioniert. Die sind plötzlich irgendwo gelandet und machen einfach mit, weil jeder so gut spielt und alle nur so tun und irgendwie ist das auch beruhigend. Das können wir auch. Mitmachen und gucken, was passiert. Es kann nur gut gehen, vielleicht sogar noch besser.«
Wenn die eigenen Zeilen Mütter zum Weinen, Cousins zum Lächeln und einen selbst zur Ruhe bringen, dann hat man alles erreicht. Aber diese Ruhe hält nur kurz, diese Ruhe ist mehr eingeredet als tatsächlich da. Und wenn Julia sagt: »Wir arbeiten noch lange genug«, es sei okay, wenn ich ein Semester länger brauche, dann hat sie Recht. Mein schlechtes Gewissen bleibt trotzdem bestehen, dass ich nicht alles gleichzeitig schaffe. Dass mir die Gedanken an Arbeit suchen und finden zu schaffen machen. Dass ich trotz all meiner Referenzen und meinem Können in unterschiedlichen Bereichen Angst habe, nicht genug zu sein. Dass das wohl alles auch okay und richtig ist, sich zu sorgen. Und ich bin mir wirklich sicher, dass die Erwachsenen auch nur einfach durchziehen, ohne wirklich zu wissen, was abgeht. Und das merke ich nun auch schon bei mir: Ich kann die professionellste Version meiner selbst sein, bringe anderen Menschen das Schreiben bei, halte Vorträge und Referate, ich schreibe wissenschaftlich und analysiere wie ein Profi. Ich bin selbstbewusst und trete auch so auf und in den Mittelpunkt des Geschehens, aber nur, weil ich so tue. Ich spiele mir selbst all das vor und nur dann und nur deswegen funktioniert es auch so gut. Ich gehe kurz in mich, schüttele schlechte Gedanken ab, richte mich auf und spiele die beste Version meiner selbst. Das tut gut, das kann ich, da verstell‘ ich mich nicht. Ich pushe mich nur, damit alle anderen einschließlich meiner selbst fest von meiner Person überzeugt sind. Und ich weiß, ich kann das in Zukunft noch besser. Mit jedem Schritt vereine ich das Kind in mir mit der Erwachsenen in der Zukunft, mit all dem, was auf mich wartet.
Denn man wird immer erwachsen, ein Leben lang. Mein Cousin als Teenager feiert sein Coming of Age. Mit 16 dachte ich damals: »Jetzt geht es in die richtige Richtung« und mit 18 meinte ich, ich sei angekommen. Aber dann mit 21, dann wirklich! Und im Studium findet man sich nochmal selbst. Jede schlechte Beziehung, jede Trennung bringt voran und festigt Grenzen. Was will ich und was will ich nicht. Neue Beziehungen werden mit Blick in die Zukunft eingegangen. Mit 25 bin ich jetzt aber wirklich erwachsen! Aber ich will es doch auch irgendwie nicht sein.
Doch was für meinen Cousin gilt, das gilt auch für uns, für mich: Es kann nur gut gehen. Und meine Cousine fügt hinzu: »Es reicht aus. Du reichst aus.« Und ich denke, diese Worte einer 17-Jährigen sollten wir »Erwachsenen« uns immer wieder hinter die Ohren schreiben. Das tut gut zu hören und noch besser, zu wissen.
Wir reichen aus. Sitzen bleiben reicht aus. Pausieren reicht aus. Ein Schritt nach dem anderen machen reicht aus. Stück für Stück erwachsen werden und doch nie ganz, jedes Stück und jede Lücke reicht aus.
Sarah Lau
handmade with by netfellows
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