Ich erzähle dir abends davon. Ein Zug vor meinem Zug, es ist ein regnerischer Morgen, der Sommer hat uns dieses Jahr wirklich früh verlassen und dieser Zug rollt durch. Ein Güterzug, auf jedem Abteil ein Panzer. Ein Panzer, zwei Panzer, drei Panzer, Ich-zähle-nicht-mehr-mit-Panzer. Es ist wie in einem Traum, wie in einer Parallelwelt, unwirklich starre ich auf das dicke Grau, dass sich ewig zu wiederholen scheint. Das bei dem Tempo von links nach rechts – rattattattatta – eine Masse wird. »Da ziehen Panzer durch das Land, dachte ich«, erzähle ich.
»Junge«, sagst du. »Ja«, sage ich, »Das soll der Titel meiner nächsten Kolumne werden«.
Aber ich will nicht mehr über Krieg schreiben, vor allem jetzt nicht, wo alles so unsicher ist. Wo es nach Frieden aussieht, aber wie der aussehen soll, das weiß noch niemand. Ich weiß es vor allem nicht. Ich will nicht über Krieg schreiben oder über Nachrichten, die ich eine Woche lang nicht verfolgt habe. Ich habe zu viel verpasst, war im Digital-Detox-Wellness-Wochenende nach deinem Geburtstag. Dein 30ster. Da gab es mal wieder etwas zu feiern. Dich zu feiern, uns, wie wir gemeinsam altern, das Leben ist schön und wir haben 5 Tage frei. Gift Giving ist meine Love Language und Quality Time deine. It’s a match! Das stand damals schon auf Tinder und diese Karte »You’re the best thing I found online« passt so gut und ist so kitschig. Ich liebe das. Ich liebe uns.
Also schreibe ich einmal nicht über Krieg, einmal nicht übers nicht wissen und nicht mehr wissen können, einmal nicht über schlechte Nachrichten oder scheinbar gute oder über solche, die ich nicht verstehe. Einmal nur Feel-Good, vielleicht sogar lustig, geht das überhaupt noch?
Wir liegen im Bett und freuen uns auf den nächsten Umzug. Das ist dann mein neunter. Ich liebe das. Ich liebe wegschmeißen und Veränderung, liebe neu einrichten und immer wieder verbessern. Liebe es, in dieser wunderschönen Stadt immer mehr anzukommen, die sich ab dem ersten Tag wie Heimat angefühlt hat. Ich liebe den Rhein und hasse die Bahn, alles ist gut. Ich weiß, in welche Bar wir gehen können, wenn wir schick sind und in welche, wenn wir’s nicht sind. Ich weiß, wo es leckeres Essen für viel Geld gibt und wo es leckeres Essen für weniger viel Geld gibt. Ich gehe entspannt im Fitnessstudio ein und aus und ich sage »Hallo«, weil man sich wiedererkennt. Ich liebe es hier und ich werde es erst recht in der neuen Wohnung lieben. Ohne Fußgetrampel von oben, ohne Spülgeräusche in der Wand, ohne das Kind der Nachbarn, das provokant Spielzeuge nach unten wirft und das ich nicht erziehen darf und will.
Wir werden alt und ich finde das schön. Wir planen für die Zukunft und ich finde das schön. Ich finde schön, dass uns das keine Angst macht. Keine Sorgen, keine Panik, sehen was kommt, aber wissen, was gut ist. Und meine Freundin in Köln kauft jetzt mit ihrem Freund eine Wohnung. Das ist komisch erwachsen und verantwortungsbewusst. Sie spricht von 100.000 Euro und früher war das für mich das gleiche wie 1.000 Euro – einfach sehr viel Geld.
Heute buchen wir Urlaube und freuen uns. Heute können wir das. Heute können wir uns Hilfe kaufen und Entspannung, heute können wir in großartigen Wohnungen wohnen mitten in Bonn und uns nur kurz über den hohen Mietspiegel ärgern. Heute können wir unserem Vermieter dabei helfen, nicht arbeitslos zu werden. Das ist doch schön. »Win-Win«, denke ich und muss schmunzeln.
»Happy Geburtstag«, flüstere ich dir also in dein Ohr um Mitternacht. Ein Kuss auf die Nase und einer auf den Mund. »Danke«, flüsterst du zurück und schläfst wieder ein. Am Morgen habe ich Kuchen gedeckt, Luftballons in der Wohnung verteilt, von der Decke hängt ein »Happy Birthday«-Schriftzug und eine Kerze brennt. »Mein lieber Schatz, jetzt bist du alt«, steht in deiner Geburtstagskarte und es stimmt. Mit 30 ist man alt. Da muss man mit beiden Beinen im Leben stehen, angekommen sein, da muss man ans Heiraten denken und ans Kinder kriegen, da muss man Geld verdienen und gesund kochen, Sport machen, zu Ärzten gehen. Da bleiben die Wehwehchen über Nacht einfach bestehen. Das ist ab jetzt so.
Die Gesellschaft zieht einen grauen Schleier über die 30. Die 40 bleibt komplett verschwiegen, auch über die 50 wird ungern gesprochen. Die 60 ist ein Meilenstein, an dem man eigentlich lieber nicht gefeiert werden möchte und ab dann wird es egal. Ob 70 oder 80 Jahre, das macht dann keinen Unterschied mehr.
Aber doch. Ich freue mich auf die 30 und ich freue mich auch auf jeden weiteren Geburtstag. Ich liebe das. Ich erzähle schon Wochen vorher davon, erinnere jeden daran, dass mich auch bloß niemand vergisst, und ich liebe es, so lange wie möglich Geburtstag zu haben. Deswegen gibt es auch keine Party, kein Zusammenkommen. Jede und jeder wird Stück für Stück abgeklappert und mein Geburtstag zieht sich von einem Tag auf mindestens 3 Monate. Hurra!
Meine Freundin macht dasselbe mit Weihnachten. Ab dem Moment, an dem die Weihnachtsdeko die Straßen verlässt, Lichter abgehängt und die Tage wieder heller und länger werden. Ab dem Moment, an dem das Weihnachtsgebäck die Supermärkte heimlich verlässt und die Kekse in der Dose zuneige gehen. Spätesten ab dem Moment, wenn die Tannenbäume für das Osterfeuer gesammelt werden und der Baumschmuck wieder im Keller verstaut wird, fängt sie an, die Tage bis zum nächsten Weihnachtsfest zu zählen. Spätestens nach Halloween ist Weihnachten, gerne auch schon früher. Die Weihnachtstassen hängen das ganze Jahr über der Küchenzeile und unser instagram-Nachrichten-Verlauf wird von Weihnachts-Reels überfüllt.
Es sind die kleinen Dinge im Leben, die das Leben schön machen. Kindlich abends im Bett kichern und toben und so aufgeregt auf den Geburtstag sein. Sich ein ganzes Jahr auf Weihnachten freuen. Rutschen in Thermen, Sprudeln und Kinderspiele spielen.
Im Alter wird alles egaler. Die Generation nach uns bemüht sich cool und individuell zu sein, uns ist das egal. Ich freue mich, wenn eine Hose passt und mein Po darin gut aussieht. Ich freue mich aber vor allem, im Winter nicht zu frieren und bequeme BHs zu tragen. »Meine ganzen jungen Kolleginnen tragen jetzt diese neuen Schuhe«, erzählt meine Freundin und kauft sie sich nach. Dann fragt sie nach meiner Socken-Expertise, dabei ist meine Sockenschublade alles andere als Gen Z (obwohl ich streng gesehen sogar noch dazugehöre). Bunt und ausgefallen und sehr lang. Ich liebe das, meine Kollegen auch.
Im Job bin ich die Jüngste. Hier redet man über Sendungen, die für mich mehr als Retro sind. Hier findet man toll, was ich in den jungen Jahren schon erreicht habe. Und tatsächlich finde ich das auch toll. Mein Job ist momentan eine Mischung aus: Denk‘ dir mal was Cooles dazu aus, such‘ mal interessante Menschen und lern‘ mal mit diesen neuen KIs umzugehen. Die KIs machen mich fertig. JSON und ich freunden uns nur langsam an, ChatGPT ist für mich immer dann weiblich, wenn sie mir hilft, und immer dann männlich, wenn er rumzickt und nicht macht, was ich will. (Ist das schon Feminismus? Oder die Tatsache, dass ich breitbeinig in der Sauna sitze, im Schneidersitz, mich dehne und recke und deinem Blick nicht ausweiche?) Manus will zwischendurch, dass ich für ihn anklicke, dass er ein Mensch ist, dann übernimmt er wieder die Kontrolle. Das ist komisch. Und mein Problem ist, dass ich selbst schuld daran bin, wenn die KI nicht so reagiert wie gewünscht, das habe ich nun schmerzlich bei einem Workshop gelernt. Die KI ist ein kleiner Einstein, der auf deinem Schreibtisch sitzt und dir helfen will und kann, du musst ihm nur sagen, wie.
Und du musst dir selbst sagen, wie.
Heute dies, morgen das. Eins nach dem anderen. Es ist kein Berg, der vor dir liegt, kein schweres Alter, kein gesellschaftlicher Weg, der gegangen werden muss. Es ist eine Hüpfburg, ein Trampolin und wir springen gemeinsam. Manchmal geben wir uns Schwung, manchmal bremsen wir uns aus. Manchmal springen wir im Takt.
Auf und ab.
Und auf und ab.
Und auf.
Sarah Lau