Eine Geschichte im Präteritum

Ich war jünger als du damals und du sehr fürsorglich. Wir gingen immer zusammen einkaufen. Ich packte am Eingang einen Apfel und aß ihn, bis wir an der Kasse standen. Du sagtest, ich nahm mir am Eingang einen Apfel und aß ihn, bis wir an der Kasse standen, und du zahltest ihn. Daheim kochten wir zusammen – das hieß, du kochtest und ich sah dir dabei zu. Meist saß ich auf der Anrichte und lauschte gespannt deinem Gesang. Du sangst viel damals und ich sang mit, auch wenn ich nie verstand, wovon wir sangen. Beim gemeinsamen Essen erzähltest du von deinem und ich von meinem Tag, dann brachtest du mich zu Bett, last mir vor, decktest mich zu und gingst.

 

Wenn du mich liebtest, warum hast du mich verlassen?

Morgens wecktest du mich, trugst mich die Treppe hinunter, platziertest mich auf dem Stuhl rechts vom Tisch und dich selbst auf die linke Seite, sodass wir uns ansahen. Beim Frühstück erzählte ich von meinem Traum: Mein Kuscheltier Blaubär wurde entführt und der Entführer lief vor mir durch einen Wald, der kein Ende zu haben schien. Ich lief hinterher, bis er vor einem Abgrund stand. Dort endete mein Traum. Ich erfuhr nie, ob der Entführer Blaubär fallen ließ, sich mit ihm in den Tod stürzte oder ihn mir entschuldigend zurückgab. Du sagtest, er gab ihn mir bestimmt zurück, drücktest mir einen Kuss auf die Stirn und gingst.

 

Wenn du mich liebtest, warum hast du mich verlassen?

Abends lag ich schon im Bett, als du zurückkehrtest. Du warst sehr laut und sauer und gingst schon nach 10 Minuten, die du daheim warst, wieder an die frische Luft. Ich erinnerte mich, dass du oft spazieren gingst abends.

 

Wenn du mich lieb-test, warum hast du mich verlassen?

Du kehrtest nicht mehr heim in dieser Nacht. Am nächsten Morgen warst du immer noch weg. Am Nachmittag dann sah ich dich mit einem Koffer in der rechten Hand in der Tür stehen. Du blicktest zurück. Sahst mich an. Sagtest, es täte dir leid. Hinter dir auf der Straße stand ein Umzugswagen. Du gingst, und die Tür, durch dessen Glas man dich noch gehen sah, fiel ins Schloss.

 

Wenn du mich liebtest, warum hast du mich verlassen?

Und jetzt sah ich dich letztens und wir sprachen miteinander über unsere Leben, die sich kaum noch verbinden lassen. Und du fragtest mich aus, dich interessierte mein Glück, meine Geschichte, mein Weg und ich sah dich an. Sagte, es täte mir leid. Und ich ging.

Wenn wir uns liebten, warum haben wir uns verlassen?

Und warum verließen wir uns auf etwas, das längst Präteritum war?

Warum ließen wir unsere Herzen eine Mauer bauen? Eine Mauer, die so undurchdringlich ist, dass man Jahrtausende lang mit einem Teelöffel den kalten Stein abkratzen müsste, und nur wenn jemand auf der anderen Seite es ebenso versuchte, bestünde die Möglichkeit, sich zu treffen. Doch das ist nahezu unmöglich.

Ich halte trotzdem einen Teelöffel in der Hand bereit und kratze nun ein halbes Jahr. Ich hoffe, unsere Teelöffel treffen sich bald und dass aus Präteritum wieder Präsens wird.

Sarah Lau

Zu diesem Text gibt es ein YouTube-Video von Kamerafrau Sophie-Luisa Hopf: https://www.youtube.com/watch?v=MIXCU62CBNY&t=2s