Frohs Neus.

Über das Sektglas hinaus schiele ich auf die Uhr. Kurz nach Mitternacht. Meine Müdigkeit und die Tatsache, dass ich dieses Jahr verlernt habe zu trinken, bringen ein mühsames »Frohs Neus« über die Lippen. Jetzt ist 2023 und 2022 bin ich 25 Jahre alt geworden. 2022 bin ich alt geworden. Habe den Master halb in der Tasche, die Zukunftspläne irgendwo im Hinterkopf, bin mit einem Fuß raus aus der Tür, raus aus Paderborn, mit dem anderen noch warm eingepackt dort, wo es nach Zuhause riecht und mal wieder gesaugt werden müsste.

Setzen Sie sich. 2022 hat uns einiges abverlangt, wir sind müde und alt. Der Weihnachtsschmuck muss zurück in den Keller, der Tannenbaum zum Osterfeuerlagerplatz, die Flaschen Wein, Bier, Sekt und Schnaps in den Altglascontainer und wenn wir ehrlich sind: Wir müssen ins Bett.

Hätte gern das Bett noch frisch bezogen zu Weihnachten, hätte gern meine Nägel noch lackiert. Wäre gern noch eine Minute länger mit dir sitzen geblieben und hätte gern noch mehr Nachtisch für euch vorbereitet. Hätte gern vor der Freizeit auch Freizeit gehabt, mich aufs Entspannen eingestellt und nicht bis zu letzten Minute noch aufgezählt, was mir alles fehlt. Alle Wäschen erledigt, den Müll rausgebracht, den Keller sortiert und das Silberbesteck von Oma poliert. Und obwohl wir gesagt haben, wir schenken uns nichts, hält jeder von uns ein Geschenk in der Rückhand bereit, wer zuerst zuckt wird beschenkt und wie du mir, so ich dir, ist ja auch nur eine Kleinigkeit, die ist mir so in den Schoß gefallen nach 3 Stunden Intensivsuche und Kaufstress. Zwei Großfamilien auf anderthalb Tage aufgeteilt, das Packen in die Nacht verschoben, Zeit zu zweit auf Neujahr.

Mein Spotify Rückblick zeigt, dass ich nicht so fancy & anders bin, wie ich es gern wäre. Der Jahresrückblick der Menschen bei Instagram zeigt, dass wir alle gleich sind. Meine Nichte zeigt, dass das Jahr doch länger war als gedacht, dass man in einem Jahr viel lernen kann, laufen und sprechen und dass die Tante Mimi heißt. Mein Herz zeigt, dass ein Jahr viel ausmacht, viel kleben und fixen kann, viel überstehen und hinter sich lassen, viel aufeinander zugehen und abschließen, viel offen lassen, was noch nicht geschlossen werden kann. Eine Dose gehackte Tomaten findet sich immer in der Kammer und übersteht vermutlich auch noch 2023. Eine Freundschaft übersteht WG und Umzug und findet sich in den kleinsten Momenten wieder. Eine andere versteht sich über lange Pausen und dem Wissen, dass da jemand ist. Familie ist nicht nur Familie und erst recht kein Muss. Und langsam habe ich genug. Genug von dieser wunderschönen Wohnung, die Zuwachs durch dich bekommen hat. Genug von einem Zimmer zu zweit, ich freue mich auf Platz mit dir und Platz für uns und Platz finden woanders, zwischen Job und Freizeit und vielleicht gibt’s einen Hund, obwohl ich doch immer Katzen wollte. Doch ein Jahr macht viel aus. Ein Jahr macht viel Gutes noch besser und Schlechtes okay. Ein Jahr zeigt Bestehen und Weitergehen. Ein Jahr bringt dir bei, nicht immer nur zurück zu sehen und über vielem einfach drüber zu stehen.

Kurz vor Schluss gibt es so viel zu tun. Als ob jemand am 31. Dezember vorbeikommen würde, in jede Ecke sieht, schaut, ob du staubgewischt und gesaugt hast, schaut, ob jede Abgabe gemacht, jede Rechnung gezahlt, jede Pflanze gegossen und der Kühlschrank geputzt ist. Mit sauberen Fenstern ins neue Jahr starten, mit frischer Bettwäsche und neuen Handtüchern, alle Geschenke verräumt, alles hat einen festen Platz und 2023 starten wir neu. Was hast du dir denn so vorgenommen? Wie viel Sport willst du dann treiben, welche Essgewohnheiten umstellen? Erstmal einen Monat keine Süßigkeiten? Yoga unbedingt wieder anfangen und jede Woche gibt es einen neuen Text, ein neues Lied auf der Gitarre, Gesangsunterricht und dieses Jahr wollen wir wirklich auch auf die Work-Life-Balance achten, sparen und endlich diesen Urlaub machen, den wir schon so lange geplant haben. Endlich mehr ins Theater, mindestens fünf Musicals sehen. Diese eine Freundin öfter mal besuchen und dich bei deinem alten Klassenkameraden melden, früher wart ihr doch so gut befreundet, schade, wie das auseinander gegangen ist. Aber 2023 wird alles besser! 2023 werden wir besser! Weniger Streit und noch mehr Liebe, vor allem Selbstliebe und Verständnis für jeden, der mir ans Bein pisst! Mehr Zeit für deine Familie, wir müssen auch deine Oma mal wieder besuchen. Und vielleicht schaffe ich es im neuen Jahr, mich endlich zu finden, zu festigen, festzulegen auf ein Ziel, auf eine Stadt, auf eine Zukunft und genau so wird es dann gemacht.

Doch wenn wir eines aus den letzten Jahren gelernt haben, dann, dass es nicht besser wird. Es gibt immer jemanden, der dir vors Schienenbein tritt, immer ein kleines Kind in der Grundschule, dass dir die nächste Erkältung mit auf den Weg gibt und immer jemanden, der genug Macht hat zu sagen, dass jetzt Krieg ist. Krieg in der Firma, im Supermarkt, im Nachbarland. Krieg zwischen Menschen, zwischen dir und mir, in dir selbst. Und es gibt immer was zu meckern, immer etwas, was auf der To-do-Liste stehen bleibt, immer jemanden, der zurückbleibt, mindestens eine Freundschaft, die nicht genug Zeit bekommt und sicher noch Streit wegen Belanglosigkeiten.

Und wenn ich etwas aus dem letzten Jahr gelernt habe, dann, dass es nicht besser wird, wenn ich nichts dafür tue. Wenn ich sitzen bleibe und zusehe, wenn ich nach hinten schiebe, was sich jetzt aufdrängt, wenn ich Wünsche für mich behalte, Sorgen runterschlucke und meine Zukunft in die Weite prokrastiniere. Wenn mich Silvester eines lehrt, dann, dass das Jahr vielleicht vorbei geht, doch das nächste direkt startet – ohne Pause, ohne Neuanfang, ohne Startschuss und Applaus. Es startet einfach so und es ändert sich nichts und das ist gut. Das bedeutet wenig Stress zum Jahresende, wenig Stress neu zu beginnen, wenig Stress sich selbst überbieten zu müssen und ein Weitermachen wie bisher. Denn bisher haben wir überlebt, bisher haben wir das gut gemacht, bisher haben wir durchgeatmet und weitergemacht und bisher war es mindestens okay, wenn nicht plötzlich sogar wunderschön.

Und jetzt im Moment sitze ich hier. Neben mir ein Glas Wasser – halb voll. Vor mir eine To Do Liste – sehr voll. Daneben eine Motivationsanzeige – halb leer. Und die Zeit, alles noch vor Silvester zu schaffen – nicht vorhanden.

Denn natürlich gibt es Stress und natürlich die Idee, dass wir 2022 hinter uns lassen, beenden, gut verpackt in den Keller räumen können. Und natürlich gibt es den Wunsch, dass 2023 plötzlich ein Schwung für uns selbst bedeutet, es plötzlich keine Sorgen und mehr Zeit für Freund:innen und Familie gibt. Dass die Sonne scheint und die Welt in Ordnung ist. Dass wir die beste Version unserer selbst werden und endlich den Sinn des Lebens verstehen. Doch ganz ehrlich, 2023 ist auch nur ein Jahr und auch das geht vorbei und was geht, geht und was nicht geht, geht vielleicht ein anderes Mal. Wichtig ist, dass es weitergeht und am wichtigsten: mit euch.

 

Sarah Lau