Im Vorbeigehen ist alles nur verschwindend gering, kaum da und selten bleibt etwas von dem Laufwind, dem Vorbeiziehen von Gerüchen, dem Ausklingen der Worte. Kaum wahrgenommen wirkt jede Geste wie ein Gespenst, jede Miene polygam. Im Vorbeigehen kann man sich schnell verlieben, immer neu. An jeder Ecke versteckt sich Neugierentfachendes und das Vorbeigehen hält einen selbst im Dunkeln, als wäre man nie da gewesen. Doch setzen wir uns, dann sind wir da. Setzen Sie sich und kommen Sie an, dann höre ich, was Sie sagen, sehe, was Sie machen und Sie erkennen auch mich.
Letztens ging ich durch die Straße, vorbei an einer alten Frau, die eine noch ältere Frau im Rollstuhl schob. Ich grinste gegen die Sonne und nickte beiden leicht zu, denn ich habe ihre Blicke gesehen und wollte diesen freundlich begegnen. Gegen die Sonne blinzelnd, grinsend und nickend bekomme ich jedoch als Antwort eine genuschelte, genervte, wirklich bösartig klingende Beleidigung zu hören, irgendetwas mit »bauchfrei«, mehr verstehe ich nicht und schon sind sie vorbeigegangen.
Im Vorbeigehen beleidigt zu werden ist irgendwie komischer als direkt. Denn vielleicht war es keine Beleidigung, sondern ernsthafte Kritik. Vielleicht hätte ich diese gern vollständig gehört und einen Teil davon angenommen. So nahm ich mir nur unverständliches Genuschel zu Herzen, Grunzlaute der Empörung und stückhafte Selbstzweifel.
Was ich getragen habe? Eine lange hellblaue Jeans, Zehentrenner-Birkenstocksandalen (seit zwei Jahren sagt die Gesellschaft, dass die wieder schick und in Mode sind, lässig geradezu und als junge Frau mit schönen Füßen darf man die auf jeden Fall wieder tragen), ein blaues lockeres Hemd, das bauchfrei wäre, würde ich es eng zuknoten. Doch mein leichter Knoten liegt genau über meinem Bauchnabel, die Hose ist nicht ganz highwaist, also sieht man vielleicht zwei Zentimeter meiner noch ungebräunten Bauchhaut. Skandal. Doch im Vorbeigehen wohl wirklich zu viel Haut für die Dame, im Vorbeigehen nun wirklich zu schnell für mich, um abzuwinken, was die Dame gesagt hat, um zu vergessen, wie sie dabei schaute, um nicht ernst zu nehmen, was sie mir mit auf den Weg geben wollte.
Und ich will lieber Gespräche im Sitzen oder Stehenbleiben. Will lieber gesehen werden, vollständig, nicht im Vorbeigehen. Denn zwei nackte Zentimeter meiner Haut sagen nun wirklich wenig über mich. Und eine genuschelte Beleidigung zeigt sicher nicht das Wesen dieser Frau. Ich will mir lieber Zeit nehmen, für Gedanken anderer Menschen und Zeit fühlen, die mir entgegengebracht wird, um mich zu verstehen. Und selbst wenn es dann stumpf bei Verachtung bleibt und keine Einsicht kommt, egal auf welcher Seite, dann nahm man sich Zeit, man gab sich eine Chance, man blickte kurz über den Tellerrand hinaus, wechselte die Blase, in der man sich befindet und schaute erst links, dann rechts, dann wieder links, bevor man die Straße überquerte oder doch stehen blieb. Im Vorbeigehen geht alles zu schnell. Da hört man nichts, sieht nichts, versteht meistens schlecht.
Wenn ich durch die Straßen lauf, lächle ich selten. Ein Lächeln sehen viele Menschen als Einladung, die ich ehrlich nicht willkommen heiße hinter meinen kleinen Mauern. Ich lächle nicht und schaue auf mein Handy. Dann wirke ich beschäftigt und wie eine Frau von Welt. Ich muss schnell noch diesen Termin erledigen, auf dem Weg dorthin zwei, drei Geschäfte abwickeln, an vier, fünf Menschen neue Aufgaben verteilen. Muss schnell noch diese Mail schreiben und diesen Anruf hier tätigen und dann bin ich schon dort, wo ich sein will. Im Vorbeigehen kaum gemerkt, wie ich gelaufen bin, wo ich angeeckt bin, wer mir begegnet ist und wer vielleicht ein Wort wechseln wollte. Denn ich sehe hinter meinem Handybildschirm nur verschwommene, unscharfe Realität. Und ich höre unter meinen noisecancelling-overear-Kopfhörern nur dieses Lied, das mir seit Tagen nicht aus dem Kopf geht.
So höre ich die Familie, die an der Ecke lautstark, mehrstimmig singt, nur als Störgeräusch, das meinen Song unterbricht. Ich sehe kaum ihre fröhlichen Gesichter, weil die singenden Münder sich im Blickfeldrand zu Grimassen verzerren. Ich schleiche mich durch Massen statt mich von Mensch zu Mensch zu hangeln, entdecke niemanden direkt – nur eine Wand aus Gegenüber. Und ich sehe nicht die ausgestreckte Hand des obdachlosen Mannes, dem ich früher gern einen Euro gegeben habe, ihn gesucht habe, wenn er nicht an derselben Ecke wie immer saß. Doch über die Jahre ist er dem Alkohol und den Tücken der Straße verfallen und ich immer mehr in Gedanken bei mir. Weil die Blicke, die mir entgegenkommen, die Hände, die nach mir greifen, die Anreden, die in mein Ohr dringen manchmal nicht freundlich waren, bin ich lieber bei mir, wenn ich unter Menschen bin. Einem gesenkten Blick aufs Handy begegnet man nicht. Kopfhörerbedeckte Ohren erreicht man nicht. Einen streng geschlossenen Mund kann man nicht zum Lächeln überreden.
Doch wenn ich mal die Kopfhörer vergesse und tatsächlich nichts zu tun hab, dann laufe ich viel langsamer, dann bleib ich auch mal stehen. Dann lausche ich den Straßensänger*innen und dem Stimmengewirr. Und wenn ich sogar sitze, in meinem Lieblingscafé, am Brunnen auf dem Marktplatz, wenn ich warten muss auf Verabredungen oder zu früh zu Terminen bin, dann bin ich komplett da und nehme vollständig wahr. Dann begegnen einem Menschen mit Blicken und Lachen, dann lacht man zurück und grüßt auch mal Fremde, dann wünscht man schöne Tage an der Kasse, denn dafür ist meistens genug Zeit. Dann vergisst man diese Frau, die im Vorrübergehen so unangenehm von der Seite her nuschelt, weil neben ihr, nach ihr und um sie herum so viel anderes ist, wofür sich das Stehenbleiben lohnt. Das Innehalten und Hinsetzen, das Zeitnehmen und Ruhen. Also setzen Sie sich. Setzen sie sich einfach mal hin. Allein oder zu mehreren. Sitzen gleicht Pausieren und die Zeit anhalten täte uns allen mal gut. Weitergehen wird es sowieso.
Sarah Lau
handmade with by netfellows
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