Nun sitzen wir da. Auf einem Balkon in einer Bucht, dessen Namen ich heute noch immer nicht aussprechen kann. Ein kleiner Hafen. Mittlerweile wissen wir, wem welches Boot gehört, wann der italienische Großvater zum Angeln rausfährt, wie oft das deutsche Pärchen am Tag schwimmen geht und ab wann die Holländer ihr Restaurant öffnen. Wir wissen, wie kalt das Wasser ist und dass es sich nach 2 Minuten wärmer anfühlt. Wir wissen, dass am Boden Seeigel warten, aber wir wissen auch, dass der Boden weit genug entfernt ist und man an dieser Stelle in das Hafenbecken springen kann. Die ersten Tage haben wir Wasserschuhe getragen, heute nicht mehr. Morgens scheint die Sonne genau so auf den Balkon, dass man ganz nah am Geländer sitzen und sich sonnen kann. Mittags wird der Körper nur noch halb bedeckt. Ab da sitzen wir bei meinen Eltern.
Setzen Sie sich zu uns, wir diskutieren gerade über das Weltgeschehen, das hier noch unwirklicher erscheint als zuhause. Eine halbe Stunde zum Flughafen, 3 Stunden Check In, Kofferaufgabe, Security Check, 1 Liter Bier und 2 Muffins, 2 Stunden Flug, eine halbe Stunde Taxifahrt mit Ante, zwei Übernachtungen in Split, 3 Stunden auf der Fähre nach Korčula, eine halbe Stunde im Volvo bis an diese Bucht. Auspacken, Bikini anziehen, eincremen, Füße hochlegen, Buch aufklappen.
Setzen Sie sich. Die Sonne ist warm, der Wind stark, das Essen gut und reichlich vorhanden.
Wenn ich zuhause im Alltag bin, lese ich kaum Nachrichten. Instagram ist meine erste Quelle und ich schäme mich dafür. Doch mein Job ist eine soziale Herausforderung und wenn ich die Probleme meiner Kollegen (in diesem Fall sind tatsächlich nur die männlichen gemeint) ernst nehmen soll, darf ich nicht wissen, was um uns herum geschieht. Denn ja, dein PC ist abgestürzt und dein Schnittprogramm hakelt, du konntest eine halbe Stunde nicht arbeiten und musstest stattdessen einen Kaffee aus der feinsten Maschine ziehen und in der Sonne eine rauchen bis das Problem gefixt wurde. Und anderswo sterben Menschen. Das geht nicht, das schaffe ich nicht. Ich habe mir Scheuklappen antrainiert, die ich im richtigen Moment aufsetzen muss, kann, darf, soll.
Manche politische Notlage reicht hier nur für den Smalltalk am Morgen und vielleicht bis zum Mittagessen, wenn ich es schaffe, eine Pause zu machen. Doch eintauchen können wir nicht, kann ich nicht, ich kann nur für mich selbst sprechen und ich bin froh, dass ich Nachrichten an- und abschalten kann. Das ist ein riesiges Privileg, dessen bin ich mir mehr als bewusst. Andere haben die Nachrichten vor der Nase, sitzen mittendrin fest, sind die Nachricht, die bei mir kurz im Feed aufploppt.
Nun, wo war ich? Eigentlich im Urlaub. Eigentlich liege ich gerade in der Sonne, lese einen kitschigen Liebesroman, weil mich die feministische Lektüre, die ich extra eingepackt habe, um sie endlich mal lesen zu können, ermüdet. Ich kaufe Bücher um Bücher, die man gelesen haben muss. Freue mich, bin stolz, beginne sie alle und schaue dann abends doch lieber auf mein Handy. Schaue mir irgendein YouTube-Video an, hauptsache es übertönt die Gedanken, die mich wachhalten. Und nun kann ich endlich lesen. Endlich feministische Literatur aufsaugen, so gebildet aussehen, wie die Frauen, denen ich auf Instagram folge, die ich stark und toll und bewundernswert finde und die mir genau dieses Buch empfohlen haben. Doch: Es ist immer dasselbe, immer dieselbe Klage, dieselben Arschlöcher, derselbe Narzissmus und man möchte die Menschheit schütteln. Da rege ich mich lieber zehn Seiten lang zusammen mit einer Protagonistin auf, dass ihr Typ kokst und eine andere küsst. Das sind kleine Probleme, die kurz sehr groß und schmerzhaft wirken, aber doch sehr schnell vorbei sind.
Im Urlaub merkt man erst, wie dringend ein Urlaub nötig ist. Meine Mutter hatte sich gewundert, dass wir ihr und ihrem Mann gerne folgen wollten, ihrem Urlaub beiwohnen wollten, ohne Action, ohne Party, nur spazieren, liegen, lesen, schwimmen, einkaufen, kochen, essen, Canasta spielen. Weg von allem, ruhiger werden, den Pause-Knopf drücken, sonst läuft alles im Schnelldurchlauf.
Gut auch, dass diese kleine Bucht auf dieser kleinen Insel kaum Empfang bietet. Telefonieren: Fehlanzeige. WhatsApp: Seltenst möglich. WLAN: Nur an bestimmten Ecken.
Doch in einer schlaflosen Nacht, die im Urlaub mehr als ok ist, scrolle ich durch Instagram und lese Nachrichten zum Gazastreifen. Und als ich am Morgen davon erzählen will, wird mir schmerzlich bewusst, dass ich nichts darüber weiß. Informationen sind wie Puzzleteile, zu denen mir der Rahmen fehlt, für mich sehen alle gleich aus. Ein Puzzle aus schwarzen Flecken, aus Wissenslücken. Peinlich. Also wird an diesem Morgen im Urlaub gegoogelt und gesprochen und weiter ge-googelt und weiter gesprochen. Informationen in Stichpunkten auf Instagram sind eben nur ein Teil, den man erst verstehen kann, wenn man es auch will.
Ich verstehe also: Es geht um Macht, um Religion, um Menschen, die Heimat suchen und andere Menschen, die übergangen werden. Und es geht um Hass. Viel Hass und Angst. Das Leid »Alien« von Mine und Edgar Wasser kommt mir in den Sinn: »Ich bin wie du, du bist nur etwas anders / Ich versteh dich nicht, ich bin hier nur gelandet / Ich hab‘ Angst vor dir, deshalb mach ich dich kaputt jetzt / Schluss jetzt, ich muss jetzt – Schuss«.
Und ich frage mich, warum ich davon in der Schule nichts gelernt habe. Hitler war böse, Nazis sind schlecht und der Zweite Weltkrieg war ganz, ganz furchtbar. Daraus müssen wir fürs Heute lernen. Doch ich bin 12 Jahre zur Schule gegangen und das war alles an Geschichtsunterricht. »Abi ist nicht alles«, sagt mein Stiefvater, immer wenn wir uns besonders dumm anstellen, doch er hat recht. Was wir in der Schule lernen ist höchstens, dass es viel zu lernen gibt und das jeden Tag aufs Neue. Wir dürfen nicht müde werden, nicht träge. Wir dürfen nicht denken, alles zu wissen. Ich will mehr wissen, mehr lernen, mein Wissen anzweifeln und neu strukturieren, will richtig verstehen und nicht nur die Oberfläche abspeichern und nicken, eine 1 kassieren fürs auswendig Lernen.
Der Urlaub ist vorbei und wir sitzen eine letzte Runde am Hafen. Gegenüber streiten sich zwei Tauben um eine Taubenfrau. »Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt«, so heißt es doch. Aber ich bin dagegen. Ich möchte einen großen Tisch, an den sich alle Menschen setzen und reden. Ich möchte keinen Krieg, keinen Kampf um Leben und Tod, keine Unterdrückung, keine menschlichen Roboter, keine gebrochenen Herzen.
Auf der Arbeit denke ich immer: Wir sind ein Team, wir haben genug Stress von außen, wir sitzen alle im selben Boot und müssen aus dem, was der Dreh anliefert, die bestmöglichen Geschichten bauen. Wenn wir uns jetzt auch noch gegenseitig fertig machen, haben wir ganz verloren.
Aber vermutlich ist das zu klein, zu eng gedacht, zu einfach.
Also sitze ich da und schüttle den Kopf und du senkst deinen und Mama sagt »Ja, so ist das« und ihr Mann kann auch nichts mehr dazu sagen. Und wir spielen Canasta und zicken uns an. Für 2, 3 Stunden herrscht hier ein kleiner Krieg und in der Küche vorhin auch, weil schon mal gespült wird, während das Essen kalt wird, weil davon ausgegangen wird, dass nichts passiert, wenn man es nicht selbst in die Hand nimmt. Und später herrscht ein kleiner Krieg, weil ich etwas höre, was du gar nicht gesagt hast, was mich dann verletzt. Weil ich meine Tage habe und Mückenstiche, weil deine Erkältung mich nervt, weil heute vielleicht lieber ein ruhiger Tag sein sollte aber wir aus der fear of missing out unbedingt mitmachen mussten bei egal was und eigentlich war das zu viel und nur mit einer Schmerztablette zu schaffen, die dich dumpf macht und mir das Gefühl gibt, du seist desinteressiert.
Ich lese den Liebesroman zu Ende und beende auch meine feministische Lektüre. Sie endet versöhnlich, sie ist schön. Ich bin froh, dass ich es geschafft habe und nicht müde geworden bin. Nicht aufgehört habe. Nicht aufgegeben. Und du googelst noch ein bisschen weiter und wir bleiben dran am Weltgeschehen, schauen zu und nicht weg.
Ein einziges Missverständnis herrscht auf der ganzen Welt und ich bilde mir ein, es wäre schnell gelöst, würden die Menschen einfach mal reden. Doch so einfach ist es nicht, ich verstehe. Und ich verstehe nicht. Eigentlich ist es auch egal. Eine Frau Ende 20, irgendwo in Bonn. Was hat sie schon zu melden und was kann sie verändern?
Immerhin ein bisschen.
Und 50x ein bisschen ist dann schon ein bisschen mehr.
Und wir sind mehr als 50.
Sarah Lau
handmade with by netfellows
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