Meerschweinchen

Wenn man in Paderborn durch die Straße läuft, dann trifft man immer Menschen und meistens solche, die man kennt. Die man irgendwo schon einmal gesehen hat, mit denen man sicher wenigstens einmal kurz geredet und vielleicht sogar angestoßen hat. Freunde von Freunden, Ex-Partner:innen, über Ecken Verwandte, Verehrer:innen, Menschen aus der Schule, vor denen man sehr konzentriert aufs Handy schaut. Und Menschen, die dort arbeiten, wo ich gerne trinke, wo ich gerne bin, wo auf den Geburtstag angestoßen wird und auf das Bestehen einer Arbeit, eines Tests, eines Bewerbungsgesprächs. Und obwohl Kneipen erst abends öffnen und Alkoholkonsum erst nach 16 Uhr gesellschaftlich akzeptiert wird, arbeiten die Menschen hier schon vorher. Eine Information, die mir bisher unbekannt war und nun nur durch diesen einen Menschen aufgedeckt wurde und durch all die Kneipengespräche davor. »Was empfiehlst du mir heute, du weißt ja noch, was ich letztes Mal getrunken habe, da fehlt mir noch ein wenig die Säure, das gewisse Etwas« – »Ja, ich hab‘ da was für dich«. Hier muss ich mich nicht auskennen, nicht auf Etikette achten oder darauf, aus welchem Glas das Bier am besten schmeckt und was ich heute trinken will. Hier muss ich mir nicht einmal merken, was ich letztes Mal getrunken habe. Hier geht’s mir gut, hier wird für mich entschieden und das meistens richtig. Hier heißt es für mich »Setz‘ dich«, nicht »Setzen Sie sich«. Und so hieß es hier auch um 12 Uhr mittags schon »Moin, setz‘ dich zu mir, wohin geht’s, was gibt’s, wie ist dein Tag bisher?«

Und ich war auf dem Weg zur Arbeit, zu dem, was ich Arbeit nennen darf seit einigen Jahren. Selbstständig, Künstlerin, Autorin, ich weiß ja selbst nicht, was das heißt und wie ich plötzlich hier gelandet bin, aber schön ist es doch. Und jetzt rufen mich Menschen an, die Texte wollen zu wilden Themen wie IT oder Ehrenamt, Alkohol oder Museumseisenbahnen. Und ich setze mich und höre zu und schreibe mit und schreibe dann einen Text für einen Auftritt vor 10 oder 50 oder Internetpublikum und das ist dann eine Win-Win-Situation und diese hier erst recht:

Ich setze mich und erzähle vom Job, der da gleich auf mich zukommt und du erzählst von deinem Job heute Mittag, obwohl Hops erst abends öffnet und dann: »Wenn du das Wort ‚Meerschweinchen‘ einbaust, kriegst du einen Abend Freibier.« Ich stutze, ich nicke, du willst noch zurückrudern, ich sage, dass ich jetzt leider losmuss und dass der Deal steht.

Setzen Sie sich, ich nehme Sie mit durch mein Gehirn, zu meiner Arbeit. Heute ist »Bring‘ dein Publikum mit zur Arbeit«-Tag und ich zeige Ihnen meinen Schreibtisch, meinen Platz, mein Innenleben und das, was dann dabei rumkommt, wenn Gehirnströme zu Gedanken zu Worten zu Lauten zu Zeichen auf dem Blatt Papier werden, das nur noch digital existiert.

Das Treffen: »Hallo, freut mich«, »Wir können uns gern duzen«, Kaffeebestellungen, back to business. Informationen prasseln auf mich herein, mein Gegenüber gut vorbereitet. Tausend und eine Broschüre, tausend und eine Idee, tausend und eine Freiheit. Die Freiheit, ein Vertrauensvorschuss, der mir entgegenkommt, doch jede Freiheit braucht Eingrenzungen und jede Eingrenzung ein Schlupfloch.

Meerschweinchen.

Das passt gut. Der neue Auftrag handelt vom Thema Wasser und auch meinen Workshopteilnehmenden gebe ich wilde Worte, die in den Text eingebaut Sinn ergeben sollen: Vergleiche Liebe mit einem Schlüsselbund, Hass mit dieser Uhr und wie würde deine Freundschaft schmecken, wenn sie eine Mahlzeit wäre. Meerschweinchen und Wasser, Meerscheinchen im Wasser, Worte mit Meer, Meerwasser, Meerschweinchen. Lege mich schlafen ins Flussbett, Wasseramsel, Meerschweinchen, mein Glas ist immer halb voll, trage Hochwasserhosen, meine Oma hat Wasser in den Beinen, The water sustains me without even trying, ein Song von Johnny Flynn, den ich vor Jahren hörte.

So funktioniert mein Gehirn, so entstehen Texte. Manche nennen das Talent, ich sage, es ist Arbeit und eine, für die man den Kopf gleichzeitig ein- und ausschalten muss. Für die man in der richtigen Stimmung sein muss, die nicht immer existiert, vor allem nicht in letzter Zeit. Für die man diese Stimmung schaffen muss, wegschieben muss, was stört auf dem Schreibtisch, auf dem Desktop, Fotos aus Gedanken löschen, neue Bilder produzieren und hübsche Worte finden, um die Ecke denken, weiterdenken, Rätsel einbauen und Labyrinthe, die gesprochen wie geschrieben jeder Mensch gern erforscht.

Google hilft bei Reimen, bei Wortfindungen und Synonymen. Mein Wörterbuch steht in meinem Rücken. Erste Suche: Wasser. Wasserbett, Wasserrohr, Wasserwaage. Dann Meer: Meeresfrüchte, Meerjungfrau, Meerkatze, Meerschweinchen – ha! Flussbett, Fließend, Fluid. Waschen, Watscheln. Und alles, was mir noch einfällt: Ebbe und Flut, Sprichworte und Lieder, Cake by the Ocean, Santiano. Alltag: »Für mich nur ein Glas Wasser bitte.«

Und damit haben wir den ersten Satz. Das Gerüst bildet das Lied, diese eine Zeile, die mehr aussagt, als ich es je könnte. Den Inhalt all die Broschüren. Wir hangeln uns an Alltäglichem vorbei, springen über die Pader, verteilen hier und da ein paar Fakten und schwingen uns über Sprichwörter, die zu einem Dschungel verstrickt werden, in denen sogar Meerschweinchen ihren Platz finden. Zusammenfassung, Übersetzungen, der Sprung vom Wasser zu uns. Vorgelesen fallen viele Kleinigkeiten weg, durch Geschwindigkeit, durch Unaufmerksamkeit, durch Stolperfallen und Zungenbrecher.

Doch jeder Wegfall bleibt mir im Gedächtnis, jede Silbe wie mein eigenes Kind, jeder Satz wie ein Teil des gestrickten Schals von Oma – ein Kunstwerk für mich ganz allein. Ich lasse euch teilhaben. Merci für den Auftrag, für neue Ideen, für Herausforderungen und Dinge anders sehen, merci fürs Verdrehen und Wenden und Forschen, merci für Meerschweinchen an seltsamen Orten, fürs Suchen und Finden und weiter Nachbohren.

Und merci fürs Freibier, ich komm‘ es bald holen.

 

Sarah Lau