Nicht normal

Meine Freundin ist zu Besuch, nach langer Zeit mal wieder in Paderborn und wenn man aus der Schweiz kommt, dann ist Deutschland günstig und die Lust zu shoppen entsprechend hoch. Ein neues Portemonnaie, eine Hose und Schuhe, die bei der Arbeit nicht schmerzen. Eine Hose brauche ich auch.

Setzen Sie sich, ich berichte vom Hosenkauf, von lucky girls und Selbstzweifel, von dem Bewusstsein, dass er dumm ist und der Erkenntnis, dass er trotzdem bleibt.

Meine Freundin ist klein und schmal, hat einen geraden Körper, wenig Kurven und ein Tattoo auf dem Rücken. Sie strickt und häkelt, weil das in Bern gerade in ist. Sie schminkt sich nicht, weil sie keine Lust auf Arbeit hat und trägt am liebsten Second Hand, weil das günstig und cool für die Umwelt ist. Am meisten Oversize, weil ihr sowieso alles zu groß ist und Gebrauchtes weil Neukaufen schwer ist.

Ich bin groß. Ich habe entsprechende Oberschenkel, die mich und meinen Hintern tragen, Waden, die zeigen, welchen Sport ich mache und ein Kreuz, das Umzüge tragen und Bierkisten schleppen kann. Ich bin noch nicht so stark wie ich es gern wäre und nicht immer so dünn, wie ich es gern wäre. Doch ich bin alles in allem okay mit mir und meinem Körper. Bin okay mit seiner Leistung und versuche ihm zurückzugeben, was ich kann. Nach Tagen voller Schreibtischarbeit gibt es lieber mal wieder einen langen Spaziergang oder Yoga am Morgen. Ich nutze Sport als Ausgleich, auch für die Psyche, schaue immer mal wieder lächelnd in den Spiegel und gehe bloß niemals auf die Waage.

Beim Shoppen shoppe ich groß. Lieber eine Schuhgröße größer, 42 ½ ist ohnehin schwer auffindbar, Männer- statt Frauenabteilung und Hosen im besten Fall online.

Und beim Shoppen mit meiner Freundin fällt vor allem eins auf: Wir sind nicht normal. 1,60 zu klein, 1,75 zu groß, an ihr zu wenig, an mir zu viel, generell sind unsere Körper nicht dort richtig, wo sie es sein sollten.

Denn meine Oberweite entspricht einer Größe M, meine Arme und Schultern einer L, meine Taille einer S, mein Hintern und die Oberschenkel zwischen L und XL, meine Waden einer M, meine Füße einem Mann. Schlank sein heißt nicht zu sein wie ich und auch nicht so wie meine Freundin. Sie ist zu dünn und ich bin zu dick für gesellschaftliche Kriterien und Body Positivity oder Body Neutrality ist vielleicht in manchen Köpfen aber noch lange nicht in den Läden angekommen.

Nach 10 Hosen, die hier zu eng und da zu weit sind, mal über den Hintern und dann plötzlich nicht mal über die Oberschenkel kommen, mal im Rücken Platz haben, der am Bauch fehlt oder den Po komplett verschwinden lassen, nach 10 Hosen geben wir auf. Nach 10 Hosen macht das keinen Spaß mehr. Nach 10 Hosen sehen wir uns mit anderen Augen, zweifeln an uns statt an den Filialen und gehen lieber wieder heim.

Früher habe ich Etiketten aus Jacken geschnitten, damit niemand merkt, dass ich sie in L und XL trage. Früher war ich noch dünner als heute und dachte ich wäre dick. Früher habe ich überlegt, Diäten zu machen und bin heute froh, dass ich es nicht gemacht habe. Heute bin ich stolz auf meine Muskeln, die mich noch breiter und größer aufstellen. Heute laufe ich genauso durch die Stadt, kaufe selbstbewusst in der Männerabteilung und schlucke die Selbstzweifel runter, wenn mir als »normale« Frau nichts passt. Heute greife ich lieber schon zur größeren Größe, damit sie passt und ich mich freue oder damit sie zu groß ist und ich mich noch mehr freuen kann. Heute ärgere ich mich über mich selbst, dass ich manchmal noch immer nicht darüber hinwegsehen kann.

Aber curvy Models im Fernsehen und im Internet sind normalgewichtig. Und lucky girls sagen mir, ich muss nur fest an etwas glauben und vom Besten ausgehen, dann passiert es auch. Aber lucky girls sind weiß und privilegiert… wie ich. Und trotzdem bin ich nicht wie sie. Trotzdem weiche ich von der Norm ab, die eigentlich perfekt auf mich zugeschnitten ist. Trotzdem werden meine Knie weich, wenn ich zu einer großen Größe greifen muss oder in die Männerabteilung ausweiche. Trotzdem bin ich die Norm und die Norm ist irgendwie doch nicht ich.

Und lucky Girls sind toxisch positiv und ich bin dumm selbstzweifelnd und die Norm ist eigentlich auch nur in unseren Köpfen.

Es sollte nicht darum gehen, was Kleidung mit uns macht, was Shoppen bedeutet und wie diese Hose mir passt. Es geht eigentlich nur darum, was ich daraus mache. Und die Größen sind nur Hilfen, um mich leicht zu orientieren. Und ich trag gern XL, damit darunter noch ein Pulli passt und ich trag ungern M, weil ich Oversize mag und lieber eine halbe Schuhgröße mehr, weil der Freiraum mir zusagt. Und dann kaufe ich einmal weniger, das ist auch okay. Ich habe im Schrank wohl noch genug, alte Kleidung sagt mir plötzlich wieder zu und vielleicht sind wir irgendwann soweit, über Größen hinwegzusehen. Denn M als Mittelwert macht »normal« ganz schnell toxisch. Und XS als Ziel ist für viele nicht gesund. Und wenn ich mit meinem Bizeps angeben will, dann muss ich damit leben, nicht mehr überall reinzupassen. Dann greife ich eine Sektion weiter und atme tief durch.

 

Sarah Lau