Oh, wie schön kann Panama sein?

Früher, als ich noch klein war, habe ich oft meine Mutter auf ihrer Arbeit besucht. Das war eher notwendig als wünschenswert. Wenn zuhause keiner aufpasst, passte Mama auf. Egal wo. Ein Job hat nie gereicht und niemand macht den Job so gut wie sie. So kannte ich schon als kleines Mädchen das Wort »Gerontopsychiatrie« und habe es mit Stolz meinen Freundinnen erklärt. Heute versuche ich es besser zu erklären, die Senioren nicht abzustempeln, »psychische Erkrankung« war in meinem Wortschatz damals einfach nicht vorhanden. Doch schon damals hat das mein Bild geprägt. Ich hatte Angst vor alten Menschen, weil die Frau aus Zimmer 206 dachte, ich sei ihre Enkelin. Ich hatte Angst, weil der Mann am Esstisch Geräusche gemacht hat. Ich hatte Angst, weil mich alle anfassen wollten, mit mir sprechen wollten. Heute verstehe ich.
Setzen Sie sich, egal wie alt sie sind. Mein rechter, rechter Platz ist frei, ich wünsche mir ein Gespräch herbei. Mein linker Platz auch und wenn wir hier am Tisch etwas zusammenrücken, können sicher alle gut hören. Vielleicht müssen wir etwas lauter sprechen und uns ansehen beim Reden, vielleicht die ein oder andere Hand halten. Ich hatte nie Berührungspunkte mit Menschen mit Behinderungen. Das höchste der Gefühle war ein Mädchen im Rollstuhl ein paar Klassen über mir. Logisch, dass mich mein FSJ dann genau an den Ort führte, an dem ich in der absoluten Unterzahl war: an eine Förderschule mit dem Schwerpunkt auf körperliche und motorische Entwicklung. Dieses Bild, wie wir morgens auf die Schüler:innen warteten, bis sie in Massen aus den Bullis strömten, in Rollstuhl, E-Rolli, mit Rollator und Co. Und dann war es einfach nur ein Job, aber ein sehr, sehr schöner. Ich hätte gerne mehr gewusst – schon damals. Denn ja, Menschen mit Behinderungen sind so wie Menschen ohne, doch trotzdem ist der Umgang ein anderer – in beide Richtungen. Der Mensch mit FAS kann seine Emotionen nicht gut zurückhalten, der Mensch mit Down-Syndrom fühlt viel mehr, ganz anders, ein anderer braucht länger, um zu verstehen. Da musste ich lernen, anders zu geben, mich anders verständlich zu machen, geduldig zu sein. Doch ich durfte auch Vertrauen erfahren, vollste Hingabe, absolute Ehrlichkeit. Es ist ein Geben und Nehmen im pursten Sinne. Doch vor alten Menschen hatte ich immer noch Angst.
Dann sitze ich da bei meinem ersten Job in Köln, das erste Mal fürs Fernsehen arbeiten, irgendwie doch noch verpönt, man wird doch noch belächelt, wenn man das sagt. Doch hier lächelt man mich an, hier plant man Hand in Hand etwas, das mehr ist als Fernsehen. Ein Experiment. »Wir übernehmen für 3 Monate ein Altenheim an der Mosel«, erzähle ich meiner Mutter. »Und wir bilden Menschen mit Behinderung zu Pflegehelfern aus, greifen so den Pflegekräften vor Ort unter die Arme, dass mehr Zeit für die Senioren bleibt und das Altenheim ein zweites Zuhause wird, nicht nur das Warten auf den Tod.« – »Schön«, sagt sie. Doch dass es so schön wird, hätte ich nicht gedacht. Das war nicht nur ein Job, das war ein Herzensprojekt – für alle. Das war pure Emotion von Anfang an, das war Erschöpfung und Erleichterung. Und das war Therapie. Denn ausgerechnet ich durfte ein ganzes Seniorenheim »casten«. Das sind 90 Gespräche, 180 Augen, die schon so viel gesehen haben, 90 zuckende Mundwinkel, die immer noch lächeln, immer noch den Schalk im Nacken haben, Stunden um Stunden sprechen, zuhören, ausreden lassen. Da ist Frau F, die ihr Leben für die Familie einer anderen gegeben hat. Frau L, die auf Fotos immer wütend schaut, aber jetzt aus jeder Pore strahlt. Herr K, der immer noch mit den Geistern seiner Vergangenheit zu kämpfen hat und Frau S, die versucht nicht das Laufen zu verlernen. Frau E trägt eine Perücke, Herr P schreit vor Einsamkeit. Frau S sieht aus wie meine Oma und versöhnt mich nachträglich und stellvertretend mit ihr. Frau W heißt wie meine Oma und liebt mich ohne Grund. Und plötzlich habe ich keine Angst mehr. Das sind Menschen wie du und ich. Menschen mit Angst, mit Liebe, mit Wünschen und Werten. Das sind in erster Linie Menschen, auch wenn wir sie abstellen an den Rand der Gesellschaft. Parken in einem Zimmer mit gelben Wänden und braunen Möbeln. Warten lassen, immer wieder warten lassen. Und ich weiß nicht, wohin das hier führen soll, außer zu Werbung in eigener Sache. Schaut es euch an (4 Folgen »Herbstresidenz« bei VOX/RTL+).
Beim Klassentreffen wurde ich gefragt, mit welchen Promis ich schon zusammengearbeitet habe, jetzt, wo ich ja fürs Fernsehen arbeite. Mir fallen da genau 90 Stück ein. Vielleicht auch ein paar mehr. Frau F, Frau S, Frau L, Herr K, das Ehepaar S und und und. Und mir fallen 10, 12, 20 Menschen ein, die sie zu Promis gemacht haben. Oh, wie schön ist Panama, das hat schon Janosch gesagt. Doch Panama ist hier, wenn wir es dazu machen. Panama bist du und ich, sind wir gemeinsam. Wenn wir uns zuhören, uns anschauen, da sind. Nur für einen Augenblick.
Sarah Lau