»Dass sowas heute noch passiert«, sagst du zu mir.
Wir sitzen auf dem Sofa, sehen fern und schauen dabei auf unsere Handys. Instagram ist unser Nachrichtenkanal. Du liest mir deine vor und ich dir meine. Meine handeln von Trash TV und Feminismus. Deine von echten Nachrichten und Musik. Das Wichtige bekommst du mit. Das Ernste und Schlimme. Bei mir ist eher Unterhaltung angesagt, vielleicht etwas Stoff für den nächsten Text, den nächsten Lacher, den nächsten Seitenhieb am Esstisch. Bei dir gibt es Sorgen. Nachrichten bedeuten Sorgen, Ernüchterung und selten Hoffnung. Ich habe das Gefühl, mich selbst im Sitzen noch hinsetzen zu müssen, so schwer wiegt all das, was du mir berichtest und ich schäme mich nur etwas, dass ich keine Nachrichten schaue oder lese, doch vielmehr bin ich manchmal froh. Denn eben noch ging es mir gut, ja, wie es mir denn geht, fragst du und ich sage: »Gut. Mir geht es gut.« Und ich muss nicht einmal lügen, denn gerade ist wirklich alles im grünen Bereich.
Setzen Sie sich, ich erzähle mal kurz und dann setzen Sie sich noch einmal mehr, vielleicht kommt es heute zu Komplikationen, zu Ruckeln und Wackeln, zu Unruhen.
»Bei dir läuft«, sagst du und ich sag »Mach kein Auge«. Das meinen wir nicht ernst, das ist Jugendslang und Mama meint, ich sei jetzt irgendwie erwachsener geworden. Du meinst das auch. Das FSJ hat uns erwachsener gemacht als andere in unserem Alter, aber ich glaube Mama meint gerade noch etwas Anderes und vor allem etwas mehr. Unabhängig und zufrieden. Ich bin ruhiger geworden, gefestigt in dem, was ich will, wer ich bin, was ich kann und was noch nicht. Und grade läuft es. Es klingt nach viel mit Familie, Partnerschaft, Freund*innen, Sport, Uni und Selbstständigkeit. Aber es läuft und das sogar gut und strukturiert. Ich kenne meine Grenzen und weiß genau, wie lange und wie viel ich arbeiten kann. Ich setze Prioritäten, schreibe To-Do-Listen, arbeite konzentriert und gebe pünktlich ab. Manches Mal lenkt mich vielleicht ein Gedanke ab, eine Nachricht über ein prominentes Liebespaar, das sich nun trennt. Doch nur kurz. Dann bin ich wieder da.
Und dann bist du da und wir reden und die Zeit im FSJ kommt wieder hoch. Wir reden über alles und ich reflektiere so gern mit dir, du schenkst mir tausend Blickwinkel und ich kann ehrlich sein, ganz ehrlich sagen, was ich denke und du nimmst das so an. Deine Geschenke sind zwei Ohren, die hören und geduldig sind. Deine Geschenke sind Hände und Arme, die halten. Schultern, an die ich mich anlehnen darf und deine Geschenke sind Gedanken. Manchmal auch schlechte, die mich grübeln lassen. Doch die sind nie von dir, von dir nur überbracht. Du schenkst mir Einblicke, die ich mir selbst nicht geben kann, nicht geben will. Ich habe gerade keine Zeit dafür und dann kommst du.
»Dass sowas heute noch passiert«, sagst du. Acht Tote bei einem Konzert in Texas. Massenpanik und rücksichtsloser Egoismus. »Dass sowas heute noch passiert, dass man nicht lernt aus vorherigen Fehlern. Love Parade. Dass man all die Menschen unübersichtlichen Gefahren aussetzt.« Ja. Aber das kann man ja vorher nicht wissen und von oben auf der Bühne hat man nicht so viel Überblick und die Verantwortung liegt auch nicht bei einem alleine und alle Informationen haben wir schließlich auch nicht und alles wird gefiltert und je nach Sender auch anders gewichtet.
»Das wird es immer geben«, denke ich. Das ist schlimm und nicht in Ordnung und man hätte sicher etwas verhindern können aber vielleicht auch nicht. Und das wird es immer geben. Gefahr und Unübersichtlichkeit, Menschen, die unvorsichtig sind und denen es sicher sehr leidtut aber das bringt im Nachhinein dann auch nicht mehr viel.
»Dass sowas heute noch passiert«, sagt mein Dozent. Wir schauen Dokumentationen über Querdenker und Pegida, über identitäre Bewegungen und Verschwörungsallianzen. Mein Vater trauert um den Begriff »Querdenker«, der nun mit etwas Schlechtem behaftet seine ursprüngliche Schönheit und Freiheit verliert. Damals wären die Menschen gern Querdenker gewesen. Heute will man bloß keinem begegnen. Andere Meinungen verunsichern mich, sobald sie laut und stark zum Ausdruck gebracht werden und in sich selbst unschlüssig und eindeutig falsch sind. Dann traut sich meine eigene Wahrheit kaum zum Vorschein, meine Meinung wird von Wut und Trauer unterdrückt, meine Kraft weicht Sprachlosigkeit.
»Das wird es immer geben«, denke ich. Laute Menschen, leider dumme und uneinsichtig noch dazu. Aber mit Lautstärke bekommt man Zuhörer*innen und damit noch mehr Lautstärke. Parolen werden umgekehrt, schöne Zitate falsch eingesetzt, Meinungen zu Fakten und ex negativo erklärt. Ich komme nicht dagegen an doch auch nicht gegen den Drang, dagegen zu halten. Es muss doch was passieren.
Dass sowas heute noch passiert, das darf doch nicht sein.
Ich habe Angst, dass sich Geschichte wiederholt wie Modeerscheinungen. Das fühlt sich nicht nach Fortschritt an. Das ist ein Treten auf der Stelle, sich gegenseitig Beinchen stellen und Stolpern ins Zurück. Das ist Rückgängigmachen, auf null skalieren, gewichtlos weitereilen, gegen Wände rennen.
»Das wird es immer geben«, denke ich. »Liebe deinen Nächsten« zählt nur solange, bis mein Nächster nicht mehr als ich bekommt. Bis ich trotzdem noch darüber stehe und an erster Stelle. Bis ich Vorfahrt bekomme und den ersten Platz in der Schlange. Bis ich das größte Stück vom Kuchen und mehr Zucker im Tee bekomme.
Man lernt wohl nie dazu und Fehler, die ein anderer für einen macht, die muss man trotzdem selbst noch einmal machen, um wirklich zu merken, wie dumm das ist. Auch nach zwei Trennungen vom gleichen Mann gehe ich einen dritten Beziehungsversuch ein, um zu merken, dass das wirklich nicht guttut. Auch nach dem letzten Stück Schokolade, das meinen Zähnen wehtut, esse ich noch ein allerletztes, nur um zu schauen, ob es wirklich nicht mehr geht. Auch nach dem letzten schlimmen Kater, trinke ich trotzdem noch Alkohol. Auch nach dem letzten unnötigen Streit, fange ich trotzdem wieder an und auch nach dem Schneiden mit dem Messer, dem Verbrennen am heißen Wasser und dem Shampoo im Auge, passiert das sicher noch einmal.
»Dass das heute noch passiert«, sagst du. Dass ich heute noch die Treppe runterfalle, heute noch sonntags nichts zu essen habe, heute noch knibbel und Taschen vergesse, dass ich heute noch immer nicht gut telefonieren kann und müde bin aber trotzdem noch dieses Video schauen muss. Dass das alles noch heute passiert, ich sei doch erwachsen genug und trotzdem mach ich denselben Scheiß wie immer. Ich lerne nicht aus und ich will auch nicht auslernen. Wie doof, wenn man plötzlich dann schon alles weiß. Und wie blöd, wenn ich wochenlang keine Nachrichten sehe und mich wundere, dass es immer noch Böses auf der Welt gibt und Tote außer Oma und Onkel Willi. Und wie schade, dass ich still werde, wenn jemand zu laut ist, dass mir Worte fehlen, wenn die des Gegenüber keinen Sinn ergeben.
»Dass das heute noch passiert«, sagst du und ich denke, das wird immer so bleiben. Jedenfalls noch ein bisschen. Noch zehn Fehler mehr.
Doch Hauptsache, man merkt es irgendwann. Hauptsache, man stellt sich nicht tot, man verstummt nicht und reißt sich zusammen. Hauptsache, man redet und hört sich auch jede noch so dumme Meinung an. Denn Meinungen sind zum Austausch da, zum Reden und Verstehen. Argumente sind zum Überzeugen da und Überzeugungen zum Leben – und Leben lassen.
Setzen Sie sich, halten Sie kurz inne und still. Hören Sie zu und hören Sie nicht auf zu reden. Hören Sie nicht weg. Schauen Sie nicht weg. Hierfür ist niemand alleine verantwortlich, sondern wir alle zusammen.
Sarah Lau
handmade with by netfellows
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