Seit jeher gut verlieren

Seit jeher spielt meine Familie Gesellschaftsspiele. Schon immer, seit ich denken kann, versammelt man sich am Esstisch, Leckerlis für Katzen und Menschen parat, Bier und Wein, wir sind dann 6 oder 7, mit Partner:innen fast 10, mit Katzen 13 oder 14. Mein Stiefvater holt die aktuellen Spiele vom Geschirrschrank und dann, 4 oder 5 Stunden später, ist das 6. Getränk leer und man vertröstet die Revanche auf das nächste Mal. Ein Blick auf die Uhr, ein Blick in den Kalender, Gute Nacht!

Setzen Sie sich. Wir spielen Canasta oder TAC, Die Siedler von Catan, vielleicht das Böhnchenspiel oder Scrabble. Am ehesten spielen wir aber Canasta. Zu viert oder zu sechst, 2er oder 3er Teams oder 2 Personen spielen als eine oder wir machen ein Canasta Turnier, 2 x 4 Spieler:innen. Es gibt Regeln und auch wieder nicht. Und seit jeher basteln wir in der Familie an neuen Namen, dass Paare in einem gerufen werden können, Ompa statt Oma und Opa zum Beispiel, das ist superpraktisch, das geht fix und alle sind Ohr. Beim Spielen ist es dementsprechend wichtig, einen Teamnamen zu finden, der ballert, einen, der die Gegner:innen in Angst und Schrecken versetzt, oder einfach eine Mischung aus den Namen der Teamspieler:innen, »können wir dann jetzt mal anfangen bitte?«

So spielen mein Stiefvater und ich als Josa gegen meine Mutter und meinen Partner als Tire. Und Josa verliert. Und verliert. Und verliert wiederum. Vielleicht liegt es an meinem neuen Smiley-Ring, der Pech bringt, vielleicht an der Sitzreihenfolge, vielleicht an zu viel oder zu wenig Bier oder Wein, vielleicht auch an den Karten oder an uns. Josa verliert und verliert und verliert und verlieren ist okay, es geht ja ums Spielen an sich, aber irgendwann ist es auch genug. Mein jüngeres Ich musste das jahrelang lernen und Weihnachten wurde immer irgendwann unter Tränen verlassen. Mein jüngeres Ich ist dann jetzt vorletztes Jahr 24 geworden und seit jeher wird nicht mehr geweint. Vielleicht auch seitdem mein Bruder seltener mitspielt. Geschwister haben naturgegeben eine ganz bestimmte Art, provokant ins Schwarze zu treffen.

Seit jeher wird also gespielt, seit jeher wird verloren, seit jeher jedoch wenigstens nicht mehr geweint.

Und seit ich groß genug bin, zu verstehen, was abgeht, seit ich wählen darf und mich dementsprechend für Politik interessiere, seit Politik mehr ist als »Wie ist der Bundestag aufgebaut« und Schulnoten, seit jeher habe ich eine Stimme und seit jeher habe ich Lust, die zu nutzen.

Ich gehe auf Demos und rufe laut mit, ich stehe auf der Bühne für Frauenrechte und gegen Nazis. Ich lese Texte zum Klimawandel und schreibe über Profitgier, Krieg und mich. Und seit jeher hat meine Mutter Angst, dass ich zwischen die Fronten gerate, dass eine Demo eskaliert, dass ich dazwischen bin, zwischen Menschen, die blind sind für den Rest, die wütend sind, deren Worte nicht mehr ausreichen.

Wie früher, als ich weinend am Esstisch saß, mein Bruder hat gewonnen und freut sich so frech darüber. Es gibt schlechte Verlierer, aber es gibt sicher noch schlechtere Gewinner. Und wenn mein »Stopp« nicht gehört wird, wenn ich keine Worte habe, zu beschreiben, wie ich mich fühle, wenn ich dann ganz Kind bin und wütend werde, dann habe ich gelernt, in ein Kissen zu schlagen. Heute hilft Sport für das Gewusel in mir drin, früher half es, Treppen hochzustampfen, Türen zu knallen und ins Kissen zu schreien.

Und ich schau‘ zufällig Reportagen, weil du noch nicht zuhause bist. True Crime, Hackerangriffe und Polizeigewalt. »Es ist 22:25 Uhr und sicher nicht die Zeit für Aufregung«, denke ich, doch ich schalte nicht ab. Zwei Tage später und wir schauen Nachrichten. Lützerath. Baumhäuser, Tunnel, Besetzer:innen, Demo und vor allem Polizei. »Wie schnell die einen Zaun errichten«, sagst du mir und ich nicke.

Und ein Abriss wird zum »Rückbau«, die Heimat vieler Menschen für Profit genutzt, der Klimawandel zur Nebensache und Gewalt ganz natürlich.

Und ich denke wir verlieren. Wie schon bei der letzten Wahl, bei der letzten Demo, bei dem letzten Mal: »Ich bin anderer Meinung.« Und ich denke, wir werden nicht gehört. Egal, wie laut, egal, wie viele, egal. Und ich möchte eine Tür zuschlagen und in mein Kissen schreien, wenn ich die Nachrichten lese, wenn ich sehe, was passiert und wie. Das sind Fronten, das ist Aggression, das ist ganz furchtbar und sicher hat das nichts mit Recht zu tun. Und ich denke nicht, dass es die Richtigen trifft, vielleicht mal Polizei und Politiker:innen tauschen, vielleicht mal keine Zäune bauen, vielleicht mal sein lassen.

Meinung stützt sich auf Information. Die Kraft, auszusprechen, was gesagt werden muss, stützt sich auf Herzen. Herzen auf Verstand, wenn das Gehirn sagt: »So nicht!« Aber sie halten unsere Hände fest und sagen: »Doch.«

Und ich weiß, wir haben verloren. Doch dafür mit erhobenem Haupt. Wir verlieren und wissen, wir haben Recht. Wir verlieren aber gewinnen uns. Gewinnen ein Gefühl von Gemeinschaft, von »Ich bin nicht allein« und »Wir sind mehr als gedacht«. Wir verlieren aber stehen wieder auf. Wir spielen bis zum Schluss, bis es schwarz auf weiß steht: Wir haben verloren. Und wir mischen die Karten neu und fangen von vorne an.

 

Sarah Lau