Stell‘ dir vor

Ich kann nicht über den Krieg reden. Ich kann es nicht. Weil ich nicht genügend informiert bin. Weil ich nicht möchte. Weil ich nicht kann, rein psychisch. Aber ich kann auch nicht nicht darüber reden. Setzen Sie sich. Das wird mühsam. Das wird ein wenig zum Sitzen bleiben und ausharren. Sitzen bleiben und still sein. Sitzen bleiben und denken. Und unterhalten, ohne zu reden. Verstehen ohne zu können. Vielleicht sollten wir lieber übers Wetter reden. Das war wirklich schön. Die letzten Tage Sonne und rote Wangen, heiße Rücken, kurze Hosen. Doch so ein Tag voller Sonne und Wärme ist dann doch plötzlich wieder sehr kalt und daheim sitzt man dann vor den Nachrichten vielleicht, weil man sich ja informieren muss über die Welt und das Geschehen und gerade jetzt ist es wichtiger als sowieso schon und gerade jetzt tut es wirklich sehr weh. Und gerade jetzt weiß ich nicht wirklich, wie man anfangen kann. Vielleicht so:

»Stell‘‘ dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin«, so heißt doch dieses Lied und das ist doch eine wirklich schöne Zeile und stell‘‘ dir vor, wir gehen nicht hin. Stell‘‘ dir vor, die Panzer bleiben daheim, die Raketen ungeschossen, die Menschen unbewaffnet daheim, Füße hochgelegt, die Lieblingsplatte duselt im Hintergrund, stell‘‘ dir vor. Stell‘‘ dir vor, jemand sagt »Schieß‘« und du schießt nicht. Stell‘‘ dir vor, jemand sagt »Geh‘« und du gehst nicht. Stell‘‘ dir vor, jemand sagt »Bleib hier« und du bleibst. Denn bleiben ist schöner als gehen. Zuhause bleiben ist schön, bei der Familie, bei Freunden, da bleiben, wo man bleiben will, wo es gut geht, das Leben, wo alles seinen gewohnten Gang geht.

Doch stell‘‘ dir vor, das geht nicht mehr. Stell‘‘ dir vor, der Gang wird unterbrochen, die Familie ist schon fort. Stell‘‘ dir vor, bleiben geht nicht, gehen geht nicht, nichts geht mehr.

Aber dann stell‘‘ dir vor, es ist Krieg gegenüber. Irgendwo, wo man es nicht sofort sieht und auch nicht hört. Irgendwo, wo man jemanden kennt, der jemanden kennt, der jemanden kennt, der mal da war zu Besuch. Stell‘‘ dir vor, dort ist Krieg und wir bleiben sitzen. Wir bleiben sitzen, weil die Sonne scheint und weil das Leben weitergehen muss. Wir bleiben sitzen, weil wir übermorgen wieder arbeiten müssen und weil heute Abend die Clubs wieder öffnen und »nach zwei Jahren Pandemie, naja, da darf man doch wohl mal wieder.« Stell‘ dir vor, wir bleiben sitzen, wenn gegenüber jemand seine Hand ausstreckt, nach Hilfe fragt: »Entschuldigung, haben sie vielleicht etwas, damit ich hier bleiben darf, so wie sie dort bleiben? Ich würde auch gerne sitzen, etwas ruhen, aber gerade ist es schwierig. Unsere Stuhlbeine werden angesägt, in der Nacht jault es durch die Luft und weder schlafen, noch essen, noch leben, noch zur Arbeit gehen ist irgendwie okay. Entschuldigung, vielleicht könnten sie ja kurz aufstehen und rüberkommen, wenigstens rübersehen. Hallo, sehen sie mich? Vielleicht könnten sie mir bitte kurz helfen, es dauert auch nicht lange hoffentlich.«

Doch vielleicht wäre das zu weit gedacht, zu traurig und ernst, zu viele Worte in den Mund gelegt für Menschen, die ich nicht kenne, die mir zu fern sind, für die ich weder reden kann noch will. Ich kann nicht und will nicht, ich fühle mich dazu nicht imstande. Denn wie können meine Worte ihre ersetzen? Wie kann ich traurig schreiben, wenn ich diese Trauer nicht kenne? Wie kann ich von Krieg schreiben, wenn ich Krieg nicht kenne? Nie gefühlt, nie gesehen, nie darüber reden müssen. Immer Privileg. Immer frei. Immer von meinem Standort aus rübergesehen. Von meinem Standpunkt ausgeharrt. Von meinem Standpunkt nichts gewusst, nichts gesehen, nichts gehört, nichts gekonnt. Wie kann ich dann jetzt dazu etwas sagen? Vielleicht lieber so:

Hallo du.

Ich war heute einkaufen, es hat leicht geregnet, die Sonne vom Wochenende kam nicht mit in die Woche.

Hallo du.

Ich höre Menschen in der Bahn über Spritpreise streiten und freue mich, selber kein Auto zu haben.

Hallo du.

Beim Geschirrspülen hab ich mir fast meine Hände verbrannt. Viel zu heiß war das Wasser, das aus dem Hahn auf meine kalte Haut schoss.

Hallo du.

In der Nacht ist es still, der Hund des Nachbarn ist gut erzogen und die Bar gegenüber renoviert momentan. Keine Menschen, kein Geschrei, Stille.

Hallo du.

Manchmal denke ich, ich wäre gern wieder blond, doch Blondieren ist so teuer.

Hallo du.

Hallo?

Belanglos – wie die Medien, die übertragen, was kaum ertragbar ist, nicht nachvollziehbar. Schlimm, aber wie schlimm eigentlich, wenn das alles real ist? Ich kenne Bilder vom Krieg schon immer. Ich sehe Filme, in denen Menschen schießen, Menschen sterben, Menschen obdachlos sind, Heimat verlassen, zurückbleiben, zurücklassen müssen. Ich sehe Bomben und Explosionen. Ich sehe Diktatoren und Soldaten, sehe Panzer und Gewehre. Ich kenne das gut und kenne es doch gar nicht. Denn all das ist nicht echt, das ist Fiktion. Der Bildschirm gilt als Schutzwall, als Mauer zwischen meiner Traurigkeit und dieser Realität. Ich finde das traurig und schlimm, doch wenn der Fernseher aus ist, wenn der Podcast vorbei, wenn die Nachrichten fertig sind, dann war das alles nur reine Fiktion. »Das gibt es doch schon lange nicht mehr.« Und ich bin blind und taub und konsumiere nur, bis ich satt bin. Ich bin sehr schnell sehr satt, weil Realität müde macht und Appetit eher mit Nachtisch gestillt wird. »Und schau‘ doch hier, dieser Mensch tanzt, dieser hier feiert Karneval und gerade öffnen die Clubs wieder, da muss man doch hin, man wird ja wohl noch dürfen. Schau doch, wie die Sonne scheint, wie warm es auf der Nase wird, wie gut das Eis schmeckt und der Kaffee vom Lieblingsort. Hand in Hand, schau, haben wir es nicht gut? Wir dürfen hier doch unser Lachen nicht verlieren, das bringt doch auch nichts.«

Ich weiß nicht, was es bringt. Weiß nicht, was genau etwas bringen könnte, doch ich weiß, dass nichts tun nichts bringt und etwas getan werden muss und vielleicht reicht es nicht, nicht hinzugehen. Rein metaphorisch gesprochen. Vielleicht reicht es nicht, sitzen zu bleiben, den Fernseher auszuschalten und Realität als Fiktion zu markieren. Das reicht ganz sicher nicht. Doch reicht es, zu sagen, wie schlimm all das ist?

Stell‘ dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin.

Doch es sind bereits Menschen gegangen und es sind Menschen geblieben und ich sitze hier und weiß keine Worte. Ich weiß nicht, was Krieg ist. Ich weiß nicht, wie sich das anfühlt. Ich weiß nichts von Not und Leid und Unsicherheit. Ich weiß nur, dass ich nichts davon weiß und mehr nicht zu sagen hab. Doch ich weiß, dass es so nicht bleiben darf.

Stell‘ dir vor, es ist Krieg, fast jede*r geht hin, weil man hingehen muss und du bleibst sitzen. Du legst die Füße hoch. Du bleibst daheim, weil sich bei dir nichts ändert, außer dem Ärger über Spritpreise und Farben an Wänden, die sich Frieden wünschen.

Stell‘ dir vor, es ist Krieg.

Stell‘s dir nicht vor. Es ist Krieg.

 

Sarah Lau