Tag Der Offenen Jacken

Meine Mütze ist in der Tasche, einen Regenschirm habe ich auch dabei. Der Schal liegt über meinen Schultern, vorne nur halb übereinandergelegt, die Jacke ist offen.

Setzen Sie sich … in die Sonne. Genießen Sie Eiskaffee to go oder nehmen Sie ihre eigene Wasserflasche mit auf den Spaziergang. Lassen Sie die Sonnenstrahlen durch ihre Winterjacke brennen und freuen Sie sich über Schweiß, über rote Gesichter, übers Stehenbleiben, Sitzenbleiben, Nase in die Luft, Augen geschlossen.

Der Rasen ist frisch gemäht, die Sonne scheint, ich gebe meine Masterarbeit in die Hände meines liebsten Mitarbeiters beim Prüfungssekretariat. Das ist wunderbar, weil er eigentlich heute gar nicht arbeitet. Denn eigentlich ist das Sekretariat geschlossen. Und eigentlich hätte ich die Arbeit auch erst nächste Woche abgeben müssen, aber nächste Woche ist schon durchgeplant. Nächste Woche habe ich keine Zeit. Also lege ich einen Tag Korrektur ein, habe plötzlich Stress im stressfreiesten Monat des Jahres. Hab‘ eigentlich schon lange nichts mehr zu tun – außer jetzt.

Jetzt lese ich Korrektur und die Korrektur der Korrektur, jetzt passe ich an und streiche weg und kürze und umschreibe, suche Synonyme für zeigen und deuten und überdenke jegliche Schulbildung in Bezug auf den richtigen Einsatz von Kommata. Und dann ist das auch schon wieder vorbei. Dann scheint die Sonne für mich am Tag der Abgabe. Dann gibt es ein Lächeln von den Menschen bei der Druckerei. Dann steht die Bürotür von Herrn F. offen. Dann ist es ganz plötzlich vorbei.

»Dann kann man ja jetzt auch schon gratulieren, durchfallen kannst du ja eigentlich nicht mehr. Und die Note ist ja auch egal, in der Medienbranche fragt da eh niemand mehr nach.« Und sowieso: die Zukunft steht schon im Kalender, das Datum fürs Weitermachen ist gesetzt, die Wohnung für den Neuanfang bereits unsere und nebenan ein Unverpackt-Laden. Was kann da schon passieren?

Es fehlt uns an nichts und vielleicht doch ein bisschen an etwas.

Es fehlt: Hops Bierbar um die Ecke. Das wird mir den einen Abend bewusst, der zwecks Geburtstagsfeier glückliche Gesichter um mich herum schert, neue und bekannte, Umarmungen und Händeschütteln. Das gibt es in der Zukunft nicht. Noch nicht, nur selten.

Es fehlt: »Hallo« an jeder Ecke, stehenbleiben und quatschen, weil man sich kennt, weil man mal zusammengearbeitet hat oder damals in der Schule nebeneinandersaß.

Ich habe jetzt einen Partner, der auch irgendwie mein bester Freund ist, was kitschig klingt, aber wahr ist. Ich fand tindern immer doof, Smalltalk immer weird und neue Leute kennenlernen anstrengend. Aber in einer neuen Stadt ohne alles, da fängt das wieder an. Da fehlen dann die Freund:innen, die Leute nebenan, da muss man aufeinander zugehen, über unangenehmen Smalltalk hinwegsehen, Handynummern austauschen und hoffen, dass er/sie sich meldet. »Vielleicht gehen wir mal einen Kaffee zusammen trinken, vielleicht mag dein Partner meinen oder dein neuer Arbeitskollege hat eine coole Freundin, vielleicht trifft man sich ja mal zu viert, Spieleabend und Bier, vielleicht wird das ja was mit uns – also, rein freundschaftlich.«

Und vielleicht fehlt auch die Sicherheit, dass alles gut wird. Vielleicht fehlen Menschen, die mir das jeden Tag 3, 4 mal sagen, vielleicht sage ich mir das selbst zu selten, ja vielleicht.

Denn es wird gut, so oder so. Es gibt immer einen Weg zurück, immer Leute nebenan, wenn das auch 2 Stunden Zugfahrt bedeuten kann. Es gibt immer Jobs, die ich machen kann und Geld, das ich zurückgelegt hab. Es gibt immer was zu tun und immer eine neue Bar. Neue Leute, neue Erlebnisse und Angst gibt es sowieso. Es gibt immer noch Familie. Die, die es geworden ist über Jahre voll Stress und die, die es schon immer war. Und ich freu‘ mich drauf, nicht erkannt zu werden, mich selbst neu kennenzulernen, zu schauen, wer ich bin, wenn ich nicht in Paderborn bin.

Mit offener Jacke lauf‘ ich los. Das Wetter ist gut, der Schal nur halb notwendig und der Regenschirm bleibt in der Tasche. Ich lauf‘ los, ein Ohr voll Musik, das andere lauscht, achtet auf Fahrradklingeln, Autohupen, Vogelgezwitscher und Gespräche anderer Leute.

Es ist Tag der offenen Türen, wenn wir ausziehen. Tag der offenen Augen, wenn wir einziehen. Tag der offenen Zukunft, wenn wir ankommen.

Schauen wir mal, was wird.

 

Sarah Lau