Und wer bist du?

Und wer bist du?, fragst du mich und ich hole aus.

Ich bin die Schwester von einem Jungen, der ganz viele Freunde hat, die meinen Namen nicht kennen, die Eltern haben, die sich meinen Geburtstag auf dem Kalender eintragen und dann ihren Kindern sagen, sie sollen der Schwester ihres Freundes gratulieren. Ich bin die Schwester von diesem Jungen, der ziemlich fantastisch ist, der nicht weiß wie man mit Geld umgeht, aber weiß, wie er mit einem Lächeln spart. Der guten Kaffee mehr wertschätzt als eine 1,3 und sich generell alles im Leben leiht. Der bei jedem Trend vorne mit dabei ist, aber unauffällig und entspannt, dass niemand denkt, er läuft einfach nur mit, nein er hat meistens alles erfunden und als erstes gemacht. Ich bin die Schwester von diesem Jungen, der unglaublich gut Musik macht, der sich beibringt, was er hören will und kauft, was er dafür braucht. Denn die Miete zahlt die Freundin, die Uni zahlt Mama und Geschenke für beide zahle ich.

Ich bin die Tochter eines Kabarettisten, daher hab ich wohl meinen Hang zur Kunst, zum Schreiben und zum schwarzen Humor. Ich bin die Tochter von dem Mann, der Bücher geschrieben hat und seinen Sohn stolz in die Kamera hielt. Ich bin die Tochter von dem Mann, der mir jeden Abend die Füße massierte bis er schließlich ging, um einer anderen Frau die Füße zu küssen. Der generell gerne Küsse verteilt und viele Komplimente, der vor Charme sprüht und mit Abweisung nicht umgehen kann. Ich bin die Tochter dieses Mannes, der auf der Bühne die Menge im Griff hat und im Leben nichts mit sich selbst anzufangen weiß. Dieser Mann hat viel gesehen, viel erlebt und viel gemacht, viele Fehler vor allem, doch er biegt sich das zurecht und zur Not hilft ein Lächeln, ein Lachen, um Kritik zu verstummen.

Wer bist du?, fragst du mich und ich hole aus und verteile Informationen wie Ohrfeigen, denn mein Vater ist Kabarettist, doch ich bin froh, hab ich nichts von ihm geerbt bis auf den großen Zeh und die Grimassen. Und mein Bruder macht Musik und ist toll und hübsch und klug, doch meine Mutter hat ihm das gelehrt. Wie man mit Lächeln weiterkommt als mit Streit, wie man mit Sorgen zur Familie zurückkehren darf, wie man ein Mann wird ohne väterliches Vorbild. Und meine Mutter hat mir beigebracht, wie man eine Frau wird, ohne männlichen Bezug, ohne männliche Wegweisung, ohne Mann. Wie man durchhält, obwohl man zwei Steine vor der Brust trägt, auf die man reduziert wird. Wie man lächelt, obwohl niemand einem ins Gesicht schaut. Wie man redet, obwohl man nicht gehört wird und wie man einsteckt, was als Kompliment gemeint das Gegenteil auslöst.

Ich sehe gut aus. Ich habe hübsche Augen. Ich habe eine tolle Figur. Ich habe einen grandiosen Hintern und schöne weibliche Hände, ich habe ein tolles Lachen, mensch, lach doch mal! Und für eine Frau bin ich ziemlich witzig. Für eine Frau mache ich das schon gut, meinst du, so im Allgemeinen, aber ich solle ein wenig ruhiger sein, nicht alles direkt so negativ sehen, das mag doch niemand.

Ich sehe fern. Heute heißt Fernsehen Werbung sehen und ich sehe viel Werbung. Frauen und Männer im Fitnessstudio, seine Muskeln groß aufgepumpt, sie trinkt. Frauen in der Küche mit Kind auf dem Arm, Mann mit Aktenkoffer kommt heim. Ein Kuss, ein Lächeln, kauf ich. Für den Mann das Müsli mit viel Protein, für die Frau ohne Zucker und bloß nicht zu viel. Die Frau kann jetzt parken, weil das Auto von selbst parkt, der Mann lobt und ist endlich mal stolz. Ich schaue Netflix, keine Lust mehr auf Werbung, doch jede weibliche Hauptrolle ist früher oder später naiv und muss aus gefährlichen Situationen gerettet werden. In Filmen meist durch die Liebe verwirrt oder durchs Single-Dasein nicht mehr von der Gesellschaft akzeptiert. Ich schaue weg.

Wir leben im Jahr 2020. Meine Mutter ist eine der stärksten Frauen, die ich kenne und trotzdem stört mich, dass sie die Wäsche ihres Mannes macht und er ihr die Kommode aufbaut. Mich stört, dass sie nach der Arbeit putzt, während er nach der Arbeit ausruht. Mich stört, dass sie sich von Opa die Welt erklären lässt und auf das Lächeln meines Bruders reinfällt. Doch sie fällt auf nichts herein, sie lässt nichts mit sich machen, sie hat sich das ausgesucht und aufgebaut und durchgehalten. Vor allem durchgehalten, weggelächelt und genickt und endlich hat sie, was sie will. Zwei gesunde Kinder, die mehr oder weniger gut auf sich selbst aufpassen. Liebe, die sie durch Wäsche waschen ausdrücken kann und durch Kommoden aufbauen zurückbekommt. Einen Mann, der vernarrt ist in sie und immun gegen Veränderungen. Einen Job, eine Wohnung, ein Auto, eine Stimme.

Ich habe von ihr gelernt, zu nicken, wenn ich merke, dass sich mehr nicht lohnt. Ich lächle und schweige, wenn ich wütend bin. Ich schau weg, wenn du mich schief anlächelst und gehe meistens nicht, auch wenn ich‘s gern würde. Denn fürs Starksein braucht es Mut und der wird mir tagtäglich genommen. Mit jedem abschätzigen Lächeln, jedem »Nimm‘s doch nicht so eng«, jedem »das kannst du so nicht sagen« und »war nicht so gemeint«. Mit jeder Hand auf meinem Hintern, jedem ungewollten Kuss, jedem Rufen und Pfeifen, jedem Auftritt, weil auch `ne Frau im Lineup sein muss. Jedem Zeigefinger, der meint mir die Welt zu erklären, jedem »Komm ich mach das für dich«. Und jede Nachricht macht es schlimmer, jedes Opfer macht paranoid, jede Begründung macht sprachlos. So wie du aussiehst, du hast es doch gewollt, nein, er würde sowas nicht tun, na sei doch nicht so prüde und sei doch nicht so willig!

Denn Sex haben ist schlimm und Sex nicht haben wollen auch. Und eine Stimme haben ist toll, aber nicht zu laut.

Ich bin sprachlos. Es ist 2020. Ich weiß nichts zu sagen, denn es wurde schon alles gesagt und eigentlich auch alles gehört aber irgendwie scheint es, als wären wir taub.

Ein Piepen im Ohr, ein Lächeln auf den Lippen, denn mit schlechter Laune kommt man nicht weit. Ich kenn dich doch irgendwoher, sagst du, du kommst mir bekannt vor, deine Stimme, deine Art. Ja, sag ich, das sagen mir viele, du kennst sicher meinen Vater. Oder vielleicht meinen Bruder, aber weißt du, du solltest meine Mutter kennenlernen, dann weißt du wer ich bin.

Sarah Lau